Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
dachte Isaura und schmunzelte, während sie die nächste Kiste heranzog, um ihr ihre wohlgehüteten Geheimnisse zu entlocken.
Bücher. Ja, und ungebundene Blätter. Wieder Briefe? Nein, das sah nach etwas Längerem aus. Manuskripte? Reisebeschreibungen?
Sie nahm ein Bündel heraus, das auf der ersten Seite eine Skizze trug. War das nicht eine Ansicht von Tordesillas?
Das Gewitter zog langsam ab, doch es schien bereits das nächste nachzurücken, und es gab noch immer keinen Strom. Isaura rückte näher zur Kerze heran.
Aber ja. Das Bild musste sehr alt sein, doch das war unzweifelhaft Tordesillas. Es war die Ansicht von der Brücke über den Duero her, die sie schon so oft genossen hatte. Dort rechts am Rand war der Convento de Santa Clara und hier der Turm der Kirche von San Antolín, wo heute das Museum untergebracht war. Aber was war das? Sie beugte sich tiefer über das Bild. Ein Schauder rann über ihren Rücken. Ein Blitz erhellte die Kammer, der Donner folgte nach kaum zwei Sekunden.
Dieses großeGebäude – das gab es heute nicht mehr. Eine hohe Mauer mit einer Art Wehrgang. Heute befanden sich hier die schön gepflegten Jardines del Palacio . Das war also der Königspalast von Tordesillas gewesen, nachdem der ursprüngliche Alcázar den Schwestern vom Orden der Klarissen überlassen worden war.
Isaura sah die dunkle Königin vor sich, wie sie den Wehrgang entlangschritt, den Blick sehnsuchtsvoll auf das weite Flusstal gerichtet. War das der Ort ihres Leidens gewesen? Ja, warum nicht? Aber wie kam Isaura dazu, von diesem fernen Palast in Kastilien zu träumen?
So viele Rätsel. So viele Geheimnisse.
Isaura blätterte weiter. Sie las ein paar Sätze, die ihr von der Art der Formulierungen vertraut erschienen. Sie blätterte wieder und wieder um, versunken in eine vergessene Welt. Halb bewusst bemerkte sie, dass das Manuskript in Spanisch verfasst war, in einer alten Handschrift mit verblassender Tinte, und dennoch verstand sie alles, was dort stand. Sie las einfach weiter, saugte die Worte regelrecht in sich ein wie ein Verdurstender das erste Wasser, bis sie am Ende der nächsten Seite angelangt war. Hastig, ja ungestüm blätterte sie um und starrte wieder auf eine Skizze.
Die traurige Unbekannte, ja, wieder sie. Isaura zweifelte nicht daran, obgleich es nur eine Skizze mit einem Kohlenstift war und sie keinen Schmuck und keine wertvolle Robe trug. Dann fiel ihr Blick auf das Wort unter dem Bild. Nur ein einziges Wort, doch es ließ mit einem Stöhnen alle Luft aus ihrer Lunge entweichen.
Caminata.
Das war la Caminata ? Die Worte. Die ihr so vertraute Art zu formulieren. Fieberhaft blätterte sie bis zum Ende und starrte auf die letzten beiden Worte unter dem Text:
La Caminata.
Isaura stürzte zu der Kiste mit den Büchern, die sie als erste geöffnet hatte, und nahm das oberste heraus. Ihre Augen huschten über den Einband und fanden den Autorennamen:
La Caminata.
Und sie fand noch mehr Bücher, halb fertige Manuskripte, Notizen, Briefe, Sammlungen von losen Zetteln. In ihrem Kopf begann es zu rauschen. Der Raum schien von La Caminata beherrscht, von der unbekannten Frau, die nun einen Namen bekommen hatte – wenn auch nicht ihren richtigen, so doch zumindest ein Pseudonym, unter dem sie so viel niedergeschrieben hatte. Es bestand kein Zweifel mehr, dass die Frau auf dem Gemälde La Caminata darstellte und dass sie irgendwie mit diesem Haus und mit Großtante Carmen in Verbindung stand.
Du bist auf dem richtigen Weg, mein Kind! Ziehe die Verbindungen, verknüpfe die losen Enden und lass es zu, dass dein Verstand begreift. Dein Herz ist längst dazu bereit.
Isaura wurde es schwindelig, und sie musste sich setzen. Von überall schien nun das Flüstern hervorzukriechen. Aus jeder Ecke, jeder Kiste, aus den Büchern und Manuskripten, aus den verborgenen Schatten, die wuchsen, sich ausdehnten und sich erhoben, um sich zu düsteren Gestalten zusammenzuziehen. Isaura sprang auf, doch ihre Beine zitterten. Sie wich zurück, bis ihr Rücken gegen die Wand stieß.
Die schattenhaften Gestalten kamen auf sie zu. Das Flüstern wurde lauter, doch sie konnte nicht verstehen, was sie sagten. Eine eisige Böe fuhr durch die Kammer und zerrte an den Flammen der beiden Kerzen, bis sie in einem letzten Aufglühen erloschen. Das Flüstern umringte sie von allen Seiten.
Isaura stieß einen Schrei aus. Ihre Knie gaben nach, und sie kauerte sich auf dem Boden zusammen, die Arme schützend um den Kopf
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