Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
Jimena riss die Augen auf und blinzelte dann, um sicherzugehen, dass ihre Fantasie ihr keinen Streich spielte. Nein, ohne Zweifel. Dort oben auf der Mauer der Burg stand Ramón und sah zu ihr herüber. Er war zu weit weg, als dass sie seine Miene hätte deuten können, doch sie war sich sicher, dass auch er sie erkannte. Er schien unversehrt und hielt sein blankes Schwert in den Händen.
Plötzlich wusste Jimena, was geschehen war. Ramón war es gelungen, sich selbst zu befreien und zur Burg zu laufen, um Carrillo und seine Männer zu alarmieren! Deshalb hatten sie vor verschlossenen Toren gestanden. Deshalb war die Burg für sie verloren.
Jimena wandte sich brüsk ab. Der Verrat des Mannes, der ihr ewige Liebe geschworen hatte, schmerzte sie tief. »Ja, ich bin bereit, Don Miguel. Reiten wir zurück. Die Königin erwartet uns.«
Sie ließen die Hälfte von Mendozas Männern zurück, um die Bewohner der Stadt zu unterstützen und Carrillos Ge folgsleuten die Lust zu nehmen, einen Ausfall zu wagen. Dann querten sie auf der alten Steinbrücke den Fluss, die in sechzehn kühnen Bogen den Duero überspannte. Das Wasser rauschte unter ihnen hindurch. Der Morgenwind bauschte ihre Mäntel. Jimena lauschte dem Klang der Hufe auf dem Pflaster und spürte, wie etwas wie Stolz in ihr aufstieg. Der wichtige Übergang über den Fluss befand sich wieder in der Hand der kastilischen Könige!
Kapitel 42
Toro, 1476
Es war die Nacht vor der Entscheidung. Vermutlich schlief auf beiden Seiten keiner so recht, außer vielleicht Beatriz, die vor lauter Anspannung am Abend so viel Wein getrunken hatte, dass sie schließlich am Tisch einschlief und in ihr Bett getragen werden musste. Isabel dagegen hatte wie üblich keinen Tropfen angerührt und war nun schon seit den frühen Abendstunden im Kloster der Klarissen, um in der Kirche auf ihren Knien vor dem Altar zu beten. Ob auch Fernando die Nacht im Gebet verbrachte und König Alfonso von Portugal? Jimena wusste es nicht, doch sie ahnte, dass in dieser Nacht viele Gebete gesprochen wurden, und sie fragte sich, nach welchen Kriterien Gott sie wohl erhörte oder verwarf. Oder saß er nur als Zuschauer dort oben auf seinem Wolkenthron und betrachtete mitleidlos, wie unten im fernen Kastilien zwei Heere aufeinander losgingen und Tausende Männer einen grausamen Tod fanden?
Isabel hatte Jimena gebeten, sie zu begleiten, doch ausnahmsweise schlug die Freundin ihr einen Wunsch ab. Diese Nacht in einer weihrauchgeschwängerten Kirche zu verbrin gen schreckte sie. Sie glaubte nicht so wie Isabel. Jimena konnte sich einfach nicht vertrauensvoll in einem Gebet an die himmlischen Kräfte wenden. Zu viele Fragen quälten sie. Zu viele Zweifel. So hatte Teresa die Königin zum Kloster begleitet, obgleich sich Jimena nicht sicher war, ob auch die stumme Cousine den Herrn im Himmel und die Jungfrau Maria anflehte oder nicht doch eher die Kräfte der Erde beschwor, wie ihre Mutter Dominga es ihr beigebracht hatte.
Sie selbst zog es hinaus in die Natur. Jimena schlüpfte aus dem Palast und ging zum Flussufer hinunter. Das Wasser des Duero schimmerte silbern im Mondlicht. Pappeln ragten in den Nachthimmel, Weiden badeten ihre noch unbelaubten Zweige im kalten Wasser, doch der Frühling war nicht mehr weit.
Jimena sehnte sich nach der Rückkehr des frischen Grüns und nach der wärmenden Frühlingssonne und fragte sich gleichzeitig bang, was der März ihnen noch mitbringen würde. Tage des Sieges im Taumel der Freude oder Flucht und Verbannung? Gar ein finsterer Kerker auf irgendeiner fernen Burg?
Jimena lauschte dem Rascheln ihrer Schritte im dürren Schilf. Den Blick zum Mond emporgerichtet, ging sie weiter und versuchte, mehr zu sehen als die Nacht, die sie umgab.
Plötzlich bemerkte sie ein Schimmern in den Bäumen am anderen Ufer, das sie zuerst für den Widerschein des Mondes hielt, doch dann formte sich eine Gestalt, die wie sie am Ufer entlangschritt. Das lange, schimmernde Gewand schien das trockene Gras nicht zu berühren. Ja, es war ihr, als schwebten die Füße über den Morast. Jimena blieb stehen und kniff die Augen zusammen, um das Gesicht erkennen zu können. Nein, das war nicht möglich.
Erkennst du mich nicht wieder? Ist so viel Zeit vergangen, seit wir uns das letzte Mal sahen?
»Ja«, flüsterte Jimena in die Nacht. »Viel zu viel. Du hast mich mit all den schweren Entscheidungen allein gelassen! Was willst du in dieser Nacht hier? Mir die Angst nehmen oder sie nur noch mehr
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