Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
zu behelligen, und eilte rasch davon. Alfonso ließ das Schwert zurück in die Scheide gleiten. Seine Miene sprach deutlich davon, wie sehr er mit sich zufrieden war, die Tugend seiner Schwester erfolgreich verteidigt zu haben. Nun allerdings ging er zu weit, als er sie harsch rügte und vorschlug, sie solle nach Einbruch der Dunkelheit ihr Gemach nicht mehr verlassen.
Schnell musste er einsehen, dass seine Schwester genauso willensstark war wie er und dass sie – auch wenn sie dankbar war, dass er in dieser brenzligen Situation für sie eingetreten war – sich nicht von ihrem jüngeren Bruder bevormunden lassen würde.
»Ach, wie stellst du dir das vor? Ich bleibe von nun an der Tafel des Königs fern und lasse mir mein Nachtmahl in meinem Gemach servieren?«
»Wenn es die einzige Möglichkeit ist, deine Tugend zu bewahren, ja!«
»Vergiss es!«, zischte seine Schwester. »Ich mache genau das, was ich für richtig halte.«
Sie funkelten sich einige Augenblicke an, dann trennten sich die Geschwister mit dem gleichen zornigen Blick und einem aufgewühlten Gemüt.
Doch nicht nur die jungen Mädchen mussten auf der Hut sein und hatten unter den Avancen der Granden und der Hidalgos zu leiden. Zu ihrer Erbitterung musste Jimena feststellen, dass in diesem Sündenbabel nicht einmal Kinder vor den Zudringlichkeiten der Höflinge sicher waren.
Es war an einem regnerischen Nachmittag, der in einen kühlen Abend überging, als die Mädchen wieder einmal in der Bibliothek des verstorbenen Königs saßen, versunken in fremden Welten, die sie so gefangen nahmen, dass sie nur ungern aus dieser Welt aufzutauchen bereit waren. Selbst Beatriz hatte eine herzzerreißende Liebesgeschichte entdeckt, die sie immer wieder aufseufzen ließ. Teresa saß dicht neben ihrer Cousine, den Blick ebenfalls auf die beschriebenen Seiten gerichtet. Jimena merkte, dass sie immer wieder fröstelnd die Schultern hochzog.
»Ist dir kalt?«
Das Mädchen nickte.
»Soll ich dir mein Tuch geben?«
Entschlossen stand Teresa auf und schüttelte den Kopf. Sie zeigte auf die Tür und deutete mit den Fingern an, sie werde in ihr gemeinsames Gemach gehen, um sich einen Umhang zu holen. Jimena nickte und vertiefte sich wieder in ihr Buch. Die Tür klickte.
Was für eine unglaubliche und tragische Geschichte! Der heldenhafte Ritter Roland, der über die Pyrenäen zog, um die Ungläubigen zu bekämpfen. Sie hielt den Atem an, als er in einen Hinterhalt der wilden Basken geriet und seine tapferen Männer einer nach dem anderen ihr Leben lassen mussten. Roland stieß noch in sein Horn, dann musste auch er sterben, von unzähligen Schwertstichen niedergestreckt.
Jimena sah von dem Buch auf. Sie war aufgewühlt von Gefühlen des Zorns und Entsetzens. Ein wenig verwunderte sie ihre eigene Reaktion. Nun ja, das war eine eindringliche Geschichte gewesen, doch hatte sie schon viele andere gelesen, die nicht minder spannend und grausam gewesen waren, aber solch eine starke Reaktion hatte sie noch nie verspürt.
Plötzlich fiel ihr auf, dass Teresa noch nicht zurückgekehrt war. Hatte sie nicht nur ein Tuch holen wollen? Oder hatte Jimena ihre Gesten missverstanden? Doch warum sollte sie sich um diese Zeit noch vor dem Nachtmahl allein in ihr Gemach zurückziehen wollen? Fühlte sie sich vielleicht nicht wohl? Entschlossen klappte Jimena das Buch zu und erhob sich. »Ich gehe nachsehen, wo Teresa bleibt.«
»Ja, vielleicht hat sie sich im Palast verlaufen«, scherzte Beatriz, doch Jimena sah sie ernst an.
»Wer weiß«, sagte sie leise und spürte dann, wie ihr unvermittelt kalt wurde, und das hatte nichts mit der Zugluft zu tun, die durch die Ritzen strich. Ein Schrei erscholl so durchdringend in ihrem Kopf, dass ihr Geist zu bersten drohte. Jimena riss die Tür auf, raffte ihre Röcke und rannte los. Die Treppe hinunter, den Flur entlang, um die Ecke und weiter in solch fliegender Hast, dass ihre Füße kaum mehr den Boden zu berühren schienen. Noch eine Treppe. Sie keuchte, als sie um die Ecke flog und dann unvermittelt anhielt. Die Tür zu Isabels Gemach stand offen, und sie konnte die Stimme eines Mannes hören, der hier ganz sicher nichts zu suchen hatte. Ob er nach Isabel Ausschau gehalten hatte oder dem Mädchen gefolgt war, tat nichts zur Sache. Jimena stürzte ins Zimmer. Sie sah mit einem Blick, dass die kleine Teresa in arger Bedrängnis war. Der Ärmel ihres Gewandes war zerrissen. Mit Panik in ihrem Blick versuchte sie sich den groben
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