Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
üblichen Handelsroute wählen.
Der Regen wurde stärker, und schon fühlten die Reisenden die Nässe, die die bereits kalten Glieder weiter auskühlte, doch sie konnten nichts weiter tun, als die Zähne zusammenzubeißen und weiterzureiten. Dann mischten sich Flocken unter den Regen, und bald schritten die Pferde über den frisch verschneiten Pfad, der nicht mehr lange zu erkennen sein würde. Stunden verstrichen, und der Tag neigte sich bereits dem Ende zu, als sie die erste Bergkette überwanden und in ein breites Hochtal abstiegen. Der Hauptmann führte sie zu einer Klause, in der ein paar Mönche ihr kärgliches Dasein fristeten. Die Brüder der Einsiedelei begrüßten die Reisenden und überließen den Frauen ihre harten, kalten Lager, doch zumindest hatten sie ein Dach über dem Kopf und konnten sich an einer heißen Suppe wärmen. Beatriz weinte stumm, aber sie klagte nicht. Es gab nichts, durch das sie ihre Lage hätten erleichtern können. So drückten sich die vier jungen Frauen eng aneinander und wärmten sich, so gut es ging. Sie schliefen kaum in dieser Nacht, obgleich ihre Körper der Ruhe bedurften. Selbst Jimena, die gern und viel ausritt, hatte das Gefühl, jeder Knochen und jeder Muskel in ihrem Leib würden schmerzen, und der erholsame Schlaf wollte nicht kommen. Zu hart und kalt war ihr Lager. Die Männer draußen vor der Hütte, deren hinterer Teil in eine natürliche Höhle überging, hatten es noch schlechter und harrten im Schneeregen unter den wenigen windschiefen Kiefern aus.
Vier Tage waren sie unterwegs, bis endlich die Mauern von Arévalo vor ihnen auftauchten. Beatriz brach vor Erleichterung in Tränen aus, und auch Jimena war froh, sich endlich aufwärmen und ihre nassen Kleider wechseln zu können. Als Isabel sich vom Pferd helfen ließ, war sie die Einzige, die den Eindruck machte, als habe ihr die Strapaze dieses viertägigen Ritts nichts anhaben können. Ihre Haltung, als sie ihre Mutter begrüßte, war so stolz wie in der Nacht ihres Aufbruchs in Ocaña, und auch später verlor sie – im Gegensatz zu Beatriz – nicht ein einziges Wort der Klage über die Unbill ihres Ritts.
Ja, sie ist eine wahre Königin und würdig, ihr Land zu führen, dachte Jimena.
Kapitel 16
Tordesillas, März 2012
»Hola! Hola Señora!«, erklang eine weibliche Stimme aus dem Hof.
Isaura hatte sich gerade einen Tee aufgebrüht, als sie den Ruf vernahm. Sie eilte in den Flur, schlüpfte in die Holzpantinen ihrer Großtante und öffnete die Haustür. Eine alte Frau und ein junges Mädchen standen im Hof. Die Frau hatte die Siebzig sicher schon überschritten. Die Strähnen, die unter ihrem schwarzen Kopftuch hervorlugten, waren grau, das Gesicht war wettergegerbt und faltig. Auch ihr Rock, die Jacke, Strümpfe und die groben Schuhe, die sie trug, waren schwarz. Das Mädchen dagegen, das kaum fünfzehn sein mochte, trug Jeans und eine bunte Bluse, obwohl ein kalter Wind von Norden her über die Hochebene wehte. Ihr Haar war schwarz und dicht und ihre Augen so eindringlich und dunkel wie die der alten Frau.
»Buenos días, Señora«, grüßte diese. Es folgte ein weiterer Schwall spanischer Worte, die Isaura nicht verstand. Nur den Namen ihrer Großtante konnte sie heraushören. Die alte Frau trat auf sie zu und ergriff ihre Hände. Sie hatte raue, abgearbeitete Finger, gekrümmt von der vielen Arbeit und vom Rheuma. Sie beugte sich vor und küsste Isauras Handrücken, wobei sie nicht aufhörte zu reden. Dann machte sie gar Anstalten, sich hinzuknien, doch Isaura hielt sie fest.
»Nein, nein«, sagte sie verwirrt. Sie konnte sich das Verhalten der Alten nicht erklären. Oder war so etwas hier in der Gegend bei einem Kondolenzbesuch üblich? Vorsichtig entzog ihr Isaura ihre Hände.
»Ich spreche kein Spanisch«, sagte sie und fügte » lo siento «, hinzu. Das hatte sie als den spanischen Ausdruck für »Das tut mir leid« in ihrem kleinen Sprachführer gefunden.
Nun trat das Mädchen vor, legte den Arm um die Alte und wandte sich zu Isauras Erleichterung in Englisch an sie.
»Das ist meine Großmutter Maria Pilar, und ich heiße Mercedes. Mercedes Martinez Luengo. Wir sind Carmens Nachbarn. Unser Haus liegt kaum einen Kilometer den Pfad entlang in dieser Richtung.« Sie nickte vage gen Westen.
Isaura streckte ihr die Hand entgegen. »Sehr erfreut. Mein Name ist Isaura Thalheim. Ich bin Carmens Großnichte.«
Mercedes nickte. »Ja, das haben wir uns gedacht. Deshalb sind wir gekommen, um Ihnen
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