Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
über die ungewöhnlichen Kräfte verfügen, die nur in der weiblichen Linie einiger weniger Familien im Land weitervererbt wurden?
Teresa nickte. Vielleicht hatte sie Jimenas Gedanken mitverfolgt. Dann wandte sie sich ab und trat mit energischem Schritt ans Bett. Sie griff Beatriz an die Schulter und schüttelte sie so unsanft, dass die Freundin mit einem Schrei auffuhr. Verwirrt sah sie sich im dunklen Zimmer um.
»Was ist?«, fragte sie blinzelnd und rieb sich die Augen. »Ist etwas geschehen?«, erkundigte sie sich mit einem Gähnen.
»Ja, Isabel ist in Gefahr, und wir reisen noch in dieser Stunde ab«, sagte Jimena, ohne auf den Ausruf des Entsetzens zu achten. Dann ging sie nach nebenan in Isabels Gemach, um die Prinzessin zu wecken. Doch deren Schlaf war entweder nicht so fest wie der ihrer Freundin Beatriz, oder sie verfügte über bessere Instinkte. Jedenfalls fand Jimena sie mit einem Tuch um die Schultern neben dem Bett vor. Furcht stand in ihrem Blick.
»Was ist geschehen?«, fragte auch sie, doch in ihrer Stimme schwangen weder Verwirrung noch die Ahnungslosigkeit mit, die Beatriz so oft umgab.
»Villena steht mit seinen Männern im Auftrag deines Bruders kurz vor der Stadt«, sagte Jimena knapp.
Isabel fragte nicht, woher sie das wusste. Sie nickte nur und sah sich nach ihren Kleidern um. »Wohin werden wir gehen?«, fragte sie, während Jimena ihr in ein warmes Reisegewand half.
Kaum eine Stunde später waren die Damen zum Aufbruch bereit. Carrillo selbst half Isabel auf den Zelter. Die Pferde, die sie und Jimena bei ihren Ausritten benutzten, waren für den Zug über den Pass nicht geeignet. Vielleicht würden sie sie später nachholen lassen, doch nun gab es Wichtigeres. Sie mussten sich beeilen, damit sie nicht mit ihrem kleinen Zug nahezu ungeschützt dem Marquis in die Arme liefen. Der Erzbischof schwang sich in den Sattel und gab das Signal zum Aufbruch. Schweigend ritten sie einer nach dem anderen in die Nacht hinaus. Ein paar Bürger, die der Hufschlag der Pferde in den Gassen geweckt hatte, lugten aus Fenstern oder Türen, Hunde bellten, doch niemand ließ sich sehen. Als sie das Stadttor hinter sich gelassen hatten, nahmen die Bewaffneten Isabel und ihre Damen in die Mitte und bildeten schützend einen Ring um sie, während Carrillo noch immer mit seinem Hauptmann den Zug anführte. In kurzen Abständen kehrten seine Späher zurück, um ihm zu berichten, dass die Straße frei war und sie keinen Hinterhalt zu befürchten hatten.
Jimena sah sich um. Sie konnte nur Teresas Gesicht in der Dunkelheit erkennen, so nah ritt ihre Cousine neben ihr. Sie war gefasst und aufmerksam wie immer, hegte aber keine Furcht. Beatriz dagegen strahlte eine solche Nervosität aus, dass Jimena ihre Züge nicht zu erkennen brauchte, um zu spüren, dass die nächtliche Flucht sie ängstigte und aus der Fassung brachte. Isabel dagegen wirkte ruhig und bemühte sich, Haltung zu zeigen. Sie schaffte es gut, ihre Ängste zu unterdrücken und vor den Männern zu verbergen. Vermutlich konnte nur Jimena fühlen, was in ihr vorging.
So ritten sie schweigend durch die Nacht. Eine bleiche Mondsichel erhellte ihren Weg. Ein kalter Wind glitt von den Bergen herab und ließ die Frauen frösteln, doch keine von ihnen klagte, nicht einmal Beatriz. Zuerst ging es stetig nach Westen, und je weiter die Nacht fortschritt, desto eisiger wurde es. Endlich erwachte der Tag, doch die Hoffnung auf die wärmenden Strahlen der Sonne verschwand schon bald hinter düsteren Wolken. Am späten Nachmittag erreichten sie Toledo und konnten sich im Palast des Bischofs aufwärmen, doch noch ehe die Nacht verstrichen war und es wieder hell wurde, brachen sie auf und ritten auf die Berge zu, die sich im Norden über ihnen erhoben. Ihre Gipfel waren noch schneebedeckt. Ab und zu rissen die Wolken auf und gaben einen kurzen Blick auf die schroffen Felsgrate frei, dann hüllte wieder dichtes Grau die Bergkette ein, an deren Hängen sich die Pferde in weiten Schleifen aufwärts mühten. Die Wolken schienen immer tiefer herabzudrücken, bis sie die Reisenden verschluckten und in kalten Nebel hüllten. Es begann zu nieseln, und die Frauen duckten sich unter ihren warmen Wollumhängen, die schwerer und schwerer wurden, je weiter sie den verschlungenen Pfaden in die Berge folgten. Sie trafen auf keine Menschenseele. Der Erzbischof wollte wohl sichergehen, dass keiner vom Weg der Thronerbin erfuhr, und ließ den Hauptmann einen Pfad fernab der
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