Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
reichten und seltsam ausgestopft wirkten. Ein Barett mit einer Feder auf dem Kopf. Daneben schritt ein bärtiger Mann in einem langen, orientalisch anmutenden Gewand, einen Turban auf dem Kopf.
Unwillkürlich wandte Isaura den Kopf, um die Männer anzustarren, doch da war niemand. Der Platz war noch immer wie ausgestorben.
Was ging hier vor sich? Sie war hier auf diesem Platz und doch nicht hier. Nein, das stimmte nicht. Es war der Platz, doch sie hätte nicht sagen können, zu welcher Zeit. Jahrhunderte schienen miteinander zu verschmelzen.
Was für ein Unsinn! Alles drohte ihr zu entgleiten. Ihr Verstand protestierte. Wie sollte sie das aushalten, ohne verrückt zu werden?
Isaura begann zu laufen. Sie hetzte unter dem Rathaus hindurch und lief die Gasse San Antolín entlang. Sie achtete nicht darauf, wohin sie rannte, ihre Beine bewegten sich wie von selbst, und ihr Geist wollte nur noch den lauernden Schatten entfliehen, die ihr unheimlich waren, auch wenn die Leute einen durchaus friedlichen Eindruck gemacht hatten. Doch was wollten sie von ihr, und wie ließ sich so etwas erklären?
Vage nahm Isaura einen rötlichen Turm wahr, der zu einer Kirche gehörte, deren Schiff aus fast blendend weißem Stein gebaut war. Die beiden Glocken oben im Turm begannen zu läuten. Isaura blieb auf dem Platz vor der Kirche stehen und atmete keuchend ein und aus. Der Klang holte sie in die Wirklichkeit zurück. Was tat sie hier eigentlich? Sie rannte am helllichten Tag wie eine Furie durch eine spanische Stadt, weil sie ein paar schattenhafte Gestalten zu sehen geglaubt hatte?
So etwas hatte sie schon einmal erlebt. Vor vielen Jahren, als sie mit ihren Elten in den Ferien nach Spanien gefahren war, bevor ihr Vater in den Pyrenäen den Tod fand. Irgendwo im Norden in einer Stadt mit einer Kathedrale. Isaura konnte sich nicht genau erinnern. Sie hatte lange nicht mehr daran gedacht, doch nun fiel es ihr wieder ein. Diese schattenhaften Gestalten, die sie stumm umringten und die nur sie sehen konnte.
Ein Gefühl von Peinlichkeit stieg in ihr hoch. Was war nur mit ihr los? Sie war nicht mehr sie selbst, die kühle, überlegte Journalistin, deren scharf formulierte Artikel so hoch gelobt wurden. Alex hatte recht gehabt: Sie musste sich ernsthaft fragen, was mit ihr los war.
Das fragst du noch?, erklang eine Stimme in ihrem Geist. Dein Mann hat dich betrogen, und du bist bis nach Spanien geflohen, weil du den Gedanken nicht ertragen kannst und dich davor drückst, dich dem zu stellen, was das für dich bedeutet!
Blödsinn! Alex hatte ihr diese Frage gestellt, bevor sie das mit Sandy herausgefunden hatte. Allein den Namen zu denken löste ein Gefühl des Ekels in ihr aus.
Und wenn ihr Unterbewusstsein es bereits geahnt, bevor dieses Telefonat es an den Tag gebracht hatte? War das vielleicht doch der Grund für ihre ständige Unruhe gewesen, für die Träume, aus denen sie immer wieder verstört hochgeschreckt war?
»Blödsinn!«, sagte sie dieses Mal laut und energisch und wandte sich von den bohrenden Fragen ab. Sie war nicht geflohen. Sie war im Auftrag ihres Verlags in Spanien, weil sie eine Reportage schreiben sollte. Eine Serie, die wichtig für das Magazin war. Weil Alex ihr vertraute und sie nach wie vor für eine brillante Journalistin hielt, die mit spannendem Material zurückkehren würde, unwiderstehlich aufbereitet, sodass die Leser nach der ersten Folge das Erscheinen des nächsten Hefts kaum würden erwarten können.
Träumerin!
Isaura ignorierte den Einwurf und richtete ihre Aufmerk samkeit nachdrücklich auf ihre Umgebung. Sie stand auf einem länglichen Platz unterhalb der Kirche. Zwei Schilder wiesen zum Museo de San Antolín und zum Casa del Tratado , dem »Haus des Vertrags«. War in diesem eindrucksvollen Gebäude jener legendäre Vertrag geschlossen worden, von dem ihr der alte Anwalt in Segovia erzählt hatte? Vermutlich. Der Plaza Mayor mit seinem Rathaus war wohl jüngeren Datums. Auf der anderen Seite schweifte der Blick über Hausdächer den steilen Uferhang bis zum Duero hinunter, der von einer steinernen Brücke mit fast einem Dutzend Bogen überspannt wurde.
Es wurde Zeit, dass sie sich wieder ihrer Arbeit zuwandte! Entschlossen trat Isaura durch die Tür, deren Schild zum Museo del Tratado de Tordesillas wies und wo es außerdem ein Fremdenverkehrsbüro gab. Isaura ließ sich mit einem Stadtplan und gut gemeinten Vorschlägen für eine Besichtigungstour ausstatten, ehe sie sich ein wenig im
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