Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
unser Beileid auszusprechen. Meine Großmutter freut sich sehr, dass Sie gekommen sind. Sie ist untröstlich über Carmens Tod.«
Isaura nickte. »Ja, der Tod hinterlässt immer eine Lücke. Aber immerhin hat sie ein stolzes Alter erreicht und konnte bis zum Schluss allein hier leben.«
Mercedes machte eine Handbewegung, als sei das nichts Besonderes. »Sie war nicht einmal hundert Jahre alt«, sagte sie. »Wir haben nicht damit gerechnet, dass sie uns jetzt schon verlassen würde.«
Isaura wunderte sich. Wurden die Leute hier im Hochland Kastiliens so alt? Es schien ein kärgliches, hartes Leben auf dem Land zu sein, das sich wohl nicht zu sehr von dem in früheren Jahrhunderten unterschied – wenn man von den Großgrundbesitzern absah, die mit ihren Maschinen riesige Flächen bearbeiteten und vermutlich einen Lebensstil pflegten, der sich kaum von den Stadtbewohnern unterschied. Für die alten Leute in ihren Gehöften dagegen oder in den winzigen Häusern, die sich in den Dörfern aneinanderdrückten, war das Leben hier draußen sicher kein Zuckerschlecken.
Isaura spürte, wie Großmutter und Enkelin sie betrachteten. Der Blick aus den dunklen Augen war so eindringlich, dass es sie schauderte.
»Carmen hat Sie doch als ihre Erbin eingesetzt, nicht wahr?«, sagte Mercedes unvermittelt.
Isaura nickte, obwohl ihr die Direktheit der Frage reichlich seltsam erschien.
»Ja, Großtante Carmen hat mir ihr Anwesen und das Haus vermacht«, bestätigte Isaura.
»Und, haben Sie sich schon entschieden, ob Sie ihre Nachfolge antreten?«, fragte das Mädchen und verwirrte Isaura damit noch mehr.
Ihre Großmutter sagte etwas in scharfem Ton, worauf Mercedes die Augen niederschlug. »Es tut mir leid. Großmutter sagt, ich solle Sie nicht drängen. Es ist eine große Aufgabe, die man nicht leichtfertig übernimmt. Das will wohl überlegt sein.«
Isaura kam zu dem Schluss, dass es die sprachliche Barriere sein musste, die sie einander nicht verstehen ließ. Sie erkundigte sich höflich, ob sie die Damen zu einer Tasse Tee einladen dürfe. »Kaffee habe ich leider nicht, aber Brot und Schinken, wenn Sie möchten.«
Die Nachbarinnen wehrten ab. »Nein, danke. Ich habe übrigens den Kühlschrank geleert und die verderblichen Le bensmittel mitgenommen«, gestand Mercedes, als wäre ihr das peinlich. »Wir wussten nicht, wann die Erbin kommt. Deshalb haben wir auch die Hühner und Hasen mit unseren zusammen untergebracht. Wir bringen sie Ihnen gleich wieder, wenn Sie möchten.«
Isaura wehrte ab. »Aber nein. Behalten Sie sie. Ich weiß ja gar nicht, wie lange ich bleibe.«
Da hob die Alte die Arme und begann zu lamentieren. Mercedes gelang es kaum, sie zu beruhigen.
»Was ist los?«, fragte Isaura erschrocken.
»Sie fürchtet, dass Sie fortgehen und alles verkaufen. Das dürfen Sie auf keinen Fall tun!«, erklärte Mercedes und sprach dann wieder mit ihrer Großmutter, der Tränen in den Augen standen, doch langsam wurde sie ruhiger und richtete ihren Blick hoffnungsvoll auf Isaura.
»Ich habe ihr versichert, dass Sie so einen Frevel auf keinen Fall begehen würden«, erklärte Mercedes. »Wie könnten Sie? Carmen hat Sie sicher mit Bedacht ausgewählt. Sie wusste immer genau, was sie tat. Sie war eine der wenigen großen Frauen, die es noch gibt, aber das wissen Sie ja sicher selbst. Wie sonst sollten Sie ihr Erbe antreten?«
Und mit diesen Worten verabschiedete sie sich. Die Alte deutete noch eine Verbeugung an, dann humpelte sie am Arm der Enkelin davon, dem Pfad nach Westen folgend, wo ihr Zuhause lag.
Sie ließen eine völlig verwirrte Isaura zurück, die grübelnd mehrere Tassen Tee trank und die seltsame Begegnung ausführlich mit dem Kater besprach, der ihr nach einem kurzen Morgenspaziergang in der Küche wieder Gesellschaft leistete.
Die Merkwürdigkeiten setzten sich über den Tag hinweg fort. Isaura hatte nun Muße, das Haus genauer zu untersuchen, und stieß neben einem Lager aus Kräuterpasten und allerlei kleinen Fläschchen auf ein ganzes Regal voller seltsamer Bücher. Sie konnte sie nicht lesen, denn keines war in Deutsch oder Englisch verfasst, doch waren die meisten auch nicht in Spanisch geschrieben. Manche davon schienen sehr alt. Es waren Handschriften in Latein dabei, in Arabisch und Hebräisch, soweit sie das beurteilen konnte, und alte gedruckte Werke mit fleckigen Ledereinbänden und vergilbten Seiten, die ebenfalls viel Zeit hatten verfließen sehen. Was waren das für Zahlen und Zeichen?
Weitere Kostenlose Bücher