Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
Medizinische? Mathematische? Astrologische? Zahlentabellen und Skizzen von Mensch und Tier, mit Linien durchzogen, aber auch Abhandlungen über allerlei Pflanzen und die Herstellung von Medizin. Das würde die Kräuter, Pasten und Fläschchen erklären. Vielleicht war ihre Tante so etwas wie die Dorfheilerin gewesen, zu der die Menschen mit all ihren Wehwehchen kamen und die sie dann mit Warzen- und Rheumapflastern, Kräuterbädern und allerlei Heiltees versorgte, die halfen oder auch nicht. Vielleicht hatten ihre Nachbarinnen dieses Vermächtnis gemeint?
»Nein!«, rief Isaura energisch und schreckte damit den Kater aus seinem Mittagsschlaf, den er sich auf der Bank vor dem Haus gönnte. »Nein, das könnt ihr euch abschminken. Ich werde hier ganz sicher nicht die Stelle des Kräuterweibleins einnehmen und um Mitternacht bei Vollmond Kräuter zupfen, um ihnen ihre Heilkräfte zu entlocken.«
Bei der Vorstellung musste sie lachen. Sie sah zu den von rotem Lehm verschmierten Holzpantinen an ihren Füßen herab, die wiederum in ein paar dicken Wandersocken steckten, und seufzte.
»Siehst du, Kater, die Wandlung beginnt schleichend. Als Nächstes ziehe ich mir vielleicht eine der Kittelschürzen über und binde mir ein Kopftuch um. Dann ist meine Verwandlung zum Kräuterweiblein nicht mehr aufzuhalten. Vielleicht sollte ich doch unsere Hasen und Hühner zurückfordern.«
Der Kater gähnte und drehte sich auf die andere Seite.
»Sehr hilfreich bist du«, schimpfte Isaura und nahm nun auch noch die Scheune und die Schuppen näher in Augenschein.
Am Nachmittag machte sie sich auf den Weg nach Tordesillas. Sie wollte ihre Vorräte ergänzen und sich ein wenig in der kleinen Stadt umsehen, die einst Zeuge einer so wichtigen historischen Entscheidung gewesen war. Isaura fand einen Supermarkt, lud sich zwei Kisten voll mit Lebensmitteln und Haushaltsartikeln und verstaute sie im Wagen. Dann suchte sie sich nahe dem Plaza Mayor in einer Seitengasse einen Parkplatz und schlenderte los. Es war ein kühler Nachmittag, und der böige Wind trieb dicke graue Wolken von Westen heran. Obwohl sie eine Jacke übergezogen hatte, fröstelte sie und überlegte sich, ob sie sich nicht in einem der kleinen Läden einen Schal kaufen sollte.
So viel also zu den milden Frühlingstagen in Spanien , dachte sie. Na, wenigstens regnete es nicht. Noch nicht , korrigierte sie mit einem Blick in den Himmel.
Es waren kaum Leute auf der Straße, und als sie den Plaza Mayor betrat, konnte sie niemanden mehr entdecken. Sie trat auf den quadratischen, gepflasterten Platz und blieb dann in der Mitte stehen, um den Blick schweifen zu lassen. Das Geviert war von einer geschlossenen Häuserfront umgeben, wie man es ähnlich in Spanien wohl an vielen Orten finden konnte. Auf der Südseite spannte sich das Ayuntamiento , wie das Rathaus hier hieß, über die Gasse San Antolín – im unteren Stock, wie die Häuser rundherum, mit einem von einfachen, runden Steinsäulen getragenen Arkadengang, darüber zwei Stockwerke in kräftigem Gelb gestrichen, unterbrochen von hölzernen Sprossenfenstern. Ein flaches Giebeldach erhob sich mit einem Dachreiter darüber, den eine Uhr und eine Krone zierten. Im stürmischen Wind wehten Fahnen, die an der schmiedeeisernen Balustrade des Balkons im ersten Stock befestigt waren.
Isaura drehte sich langsam im Kreis, den Blick starr geradeaus gerichtet. Ein seltsames Gefühl stieg in ihr hoch. Wieder dieses Vertraute, diese Empfindung des verlorenen Sohns, der nach langer Zeit heimkehrt – nun ja, vielleicht eher die der verlorenen Tochter. Schattenhafte Gestalten huschten am Rand ihrer Erinnerung entlang. Sie schoben sich in ihr Blickfeld, doch wenn sie ihr Augenmerk auf sie zu richten versuchte, war dort niemand zu sehen.
Isaura blieb stehen, den Blick auf die Uhr des Rathauses geheftet, ihre Aufmerksamkeit aber am Rand ihres Bewusstseins schweifend. Da waren sie wieder! Frauen in langen, dunklen Kleidern, eine Spitzenmantilla auf dem aufgesteckten Haar, die ihnen bis über den Rücken fiel. Männer in verwaschenen, weiten Kitteln über engen, strumpfartigen Hosen. Ein hoch beladener Karren rumpelte vorbei. Zwei Mönche passierten den Platz in ihren langen Kutten aus ungebleichter Wolle. Sie entdeckte auch einen Juden in einem langen, weiten Gewand, unverkennbar mit den Schläfenlocken. Dann ein Hauch kräftiger Farben. Ein bauschiges, rotes Ärmelpaar, das aus einem engen Wams quoll, über Hosen, die bis zum Schenkel
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