Das katholische Abenteuer - eine Provokation
organisierten Religion. Ich bin katholisch aufgewachsen. In unserem Land ist die Kirche mächtig, und sie interpretiert letztgültige Wahrheiten. Dagegen lehne ich mich auf. Ich halte es zum Beispiel für eine viel größere Sünde, den Nachbarn zu hassen, als Sex zu haben. Ich glaube nicht, dass Gott sich Sorgen darüber macht, ob wir Sex haben.
ICH: Sie sind Sohn eines Juristen. Finden Sie nicht, dass der alttestamentarische Gott einen ziemlich schlechten Richter abgibt? Er droht Strafen an, die er nicht vollstreckt, dann wieder wütet er maßlos, ja genozidal …
JOÃO UBALDO RIBEIRO: Ich glaube nicht, dass wir Gott kritisieren können. Aber wir tun es laufend. In meiner Geschichte sagt Gott: Ihr Brasilianer kritisiert mich dauernd für meine Schöpfung, aber ihr schafft es noch nicht einmal, eine ordentliche Fußball-WM auszurichten.
ICH: Gott ist unbegreifbar …
JOÃO UBALDO RIBEIRO: Genau. Das Konzept Ewigkeit können wir gar nicht begreifen. Ich glaube schon, dass Gott interveniert. Aber wie er es tut, bleibt uns verborgen.
ICH: Wenn Sie Gottes Urlaubsvertretung wären, was würden Sie ändern?
JOÃO UBALDO RIBEIRO: Gar nichts. Die meisten wollen etwas von Gott, wenn sie beten. Als ich jung war, bat ich Gott, dass ich dieses Mädchen heiraten könne, in das ich verliebt war. Rückblickend wäre ich ziemlich übel dran, wenn er mein Gebet erhört hätte. Er weiß schon, was gut für mich ist. Ich bete einfach, dass ich genau das will, was er für mich vorgesehen hat. Und dass ich seiner würdig bin.
Man redet anstrengungslos über Gott in Brasilien, weil er ständig präsent ist im Alltag. Kaum eine meiner brasilianischen Reportagen kam ohne Gottesbezug aus. Besonders präsent war er – als Schicksalsgott – in meinen Gesprächen mit dem brasilianischen Klavier-Virtuosen João Carlos Martins.
Die Martins-Passion
Der Kampf eines begnadeten Pianisten und Hedonisten um den rechten Weg zu Bach und Gott
João Carlos Martins, grau im frühen Morgenlicht und noch im Schlafanzug, haut die Linke in die Tasten. Nur die Linke. Man muss die Linke üben, immer wieder, wie der Boxer seinen Jab. Er übt drei Stunden jeden Morgen und nachmittags noch mal zwei, und im Moment ist es diese Kadenz in Rachmaninows Paganini-Variationen, »bis sich die Muskeln die Sprünge gemerkt haben«.
Allerdings: Rachmaninow hat dieses Stück für zwei Hände geschrieben. Für zwei sehr gesunde und technisch perfekte Hände. Diese Fassung nur für die Linke hat Martins selbst erstellt. Diese eine Hand rührt einen Sturm an, der Mund steht halb offen, man hört ein Stöhnen in der fauchenden Welle an Tönen, und die Rechte klammert sich an den schwarzen Rahmen des Petrow-Flügels wie an eine rettende Planke. Mehr kann sie nicht tun. Sie ist verkrüppelt.
Da liegt eine weitere Hand auf dem schimmernden Flügel, eine weiße Marmorhand, noch einmal die Rechte, übergroß und makellos. So muss der Grabstein für eine Pianistenhand aussehen. Vor zwei Jahren hat er sich den Nerv in seiner Rechten durchtrennen lassen, weil die Schmerzen zu groß wurden. João Carlos Martins, für viele Kritiker ein ähnlich großer Bach-Interpret wie Swjatoslaw Richter oder Glenn Gould, hat ein neues Kapitel begonnen. Ein Pianisten-Leben mit der Linken. Ein weiteres Comeback.
Jeden Morgen Rachmaninow nur mit der Linken. Das ist ungefähr so, als würde Baryschnikow üben, den »Schwanensee« auf dem linken Bein zu tanzen.
Es ist einfach, João Carlos Martins zu mögen. Er findet, dass das 4:3 zwischen Italien und Deutschland bei der WM 1970 in Mexiko das schönste Fußballspiel aller Zeiten war – und das war die WM, in der Brasilien Weltmeister wurde. Seine Penthouse-Wohnung in São Paulo will gleichzeitig Kloster sein und Formel-1-Renn-stall. Sie hat weiße Rundbögen und eine Kirchentür aus Lima, dazu eine verspiegelte Bar und einen Kamin aus Chrom, der aussieht wie ein Kotflügel.
»Warum spielen Sie diese Toccata so schnell?«, wurde er einst von einem Kritiker gefragt. »Weil ich es kann«, antwortete Martins. So ist das mit ihm: Er geht in die Kirche, aber er gibt auch gern an. Das übrigens galt auch für Bach.
Die Zimmerdecke ist schwarz lackiert. Die Vitrinen zeigen seine Einspielungen, und die ausgestellten Illustrierten-Titel rühmen ihn, und auf den silbergerahmten Fotos lacht er mit Pelé und Dave Brubeck und Salvador Dalí, der ihm einst den Rat gab: »Sprich darüber, dass du der Beste bist – irgendwann glauben
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