Das katholische Abenteuer - eine Provokation
Wissenschaftlern wie Richard Dawkins haben wir ohnehin kaum etwas, das den Namen freier Wille verdient. Wir sind gesteuert von den Genen, die uns als Wirte nutzen, um zu überleben.
Wir haben so viel Schuld wie eine Koralle. Man darf gespannt sein auf die Gerichtsverhandlungen der Zukunft: Ich hab das Auto nicht geknackt, Herr Vorsitzender, es war das egoistische Gen! Wie sehr sich die Biologie da an Dingen vergreift, von denen sie keinen blassen Schimmer hat, das hat uns die Dame mit der drolligen Frisur und ihrem dämlichen Gewissen vorgeführt, die so arterhaltungswidrig »nein« sagte und Fragen aufwarf, die weit über die hessische Politik hinausgingen.
Plötzlich hat die Wahrheit doch einen gewissen Charme. Könnte es sein, dass wir sie die ganze Zeit unterschätzt haben? Dass das Kapital der Politik nicht die Lüge, sondern die Wahrheit ist? Dass mit der Glaubwürdigkeit auch die Politikfähigkeit baden geht? Dass Machiavelli einfach nicht taugt, wenn es um den großen verantwortungsethischen Wurf geht, etwa den Generationenvertrag oder die Klimakatastrophe?
Nun fällt auf, dass die Geschichte der Lüge auch eine Geschichte von Pleiten ist, ganz besonders in der Politik. Die Lüge ist äußerst unpraktisch. Sie verlangt ständige Nachbesserungen, und irgendwann wird sie zu kompliziert. Bill Clinton war nach der Lewinsky-Affäre so immobil wie Tony Blair nach seiner Irak-Lüge und Fujimori nach seinen Betrügereien. Das ist die andere Liga, die Franz Walter vergessen hat: Lügner, die sich selber ins Knie geschossen haben.
Modell Bismarck? Mittlerweile spricht vieles dafür, dass der Bismarck-Schüler Henry Kissinger mit seiner Schaukelpolitik
den Friedensprozess in Vietnam eher verschleppt und beschädigt hat, weil sowohl die Sowjets wie die Chinesen sich ständig von ihm hinters Licht geführt fühlten. Die Wahrhaftigkeit dagegen ist zu durchaus nachhaltigen Siegen in der Lage, und es wird niemanden geben, der bestreitet, dass Mahatma Gandhi oder Martin Luther King erfolgreicher waren als Richard Nixon.
Von der Wahrheit geht offenbar ein unwiderstehlicher, ein wirkungsmächtiger Zauber aus, und diejenigen, die sich ihr verpflichtet haben, genießen merkwürdigerweise Heldenstatus. Warum halten wir zu Josef und nicht zu Potifars schöner Frau? Warum hassen wir die Lüge und bewundern die Wahrheit? Sind wir plemplem? Oder geht es am Ende ohne Wahrheitsziel gar nicht? Vielleicht ist es das, was uns Frau Metzger ins Gedächtnis gerufen hat.
Wenn wir uns näher über die Exkurse zur Lüge beugen, so fällt doch auf, dass sie lückenhaft sind und weder praktisch noch plausibel. Die Biologen zum Beispiel bleiben uns die Antwort schuldig, warum uns die Gene bisweilen zu überhaupt nicht arterhaltendem Verhalten treiben, etwa wenn wir einen Seitensprung beichten oder gar einen Mord. Eine der genialsten Partien in Dostojewskis Schuld und Sühne ist die Verhörszene. Raskolnikow ist versucht, sich im philosophischen Gespräch mit dem Untersuchungsrichter überführen zu lassen. Die Wahrheit will ans Licht. Raskolnikow wird dafür in Sibirien büßen – wo liegt da der Vorteil, Gen?
Vorübergehend schlüssiger scheint die Apologie der Lüge im Alltag durch die Sozialpsychologie. Steffen Dietzsch kommt in einer Kleinen Kulturgeschichte der Lüge zu dem Befund, dass die Dauerlüge den »Normalfall von Kommunikation« darstellt. »Lernen wir, damit umzugehen.« Kein Mensch erträgt den, der immer mit allem herausplatzt. Es ist nett, auch einer dicken Dame Komplimente zu machen. Es hilft durchaus dem beruflichen Fortkommen, dem Chef nicht jeden Fehler auf die Nase zu binden, sondern ihn allenfalls durch eine geschickte Intrige kaltzustellen.
Willemsen findet das Lügen regelrecht bewundernswert. Der Lügner, sagt er, brauche »Phantasie und einen flexiblen Geist. Auch schnelle Reflexion und Bildung, dazu ein gutes Gedächtnis. « Für ihn ist die Lüge der Selbstausweis besonderer Eleganz. Aber warum nur klingt das alles eine Spur zu geschmeidig, eben nach einer faden, milieutypischen Apologie der Bussi-Bussi-Gesellschaft und nebenbei nach parfümiertem Kabarett, also langweilig?
Sicher können Lockerungsübungen im Krieg zwischen Moralisten und Anti-Moralisten durchaus guttun. Oscar Wildes Paradoxien sind hinreißend, und er hat recht mit seiner Feststellung, dass es keine moralischen oder unmoralischen Bücher gibt, sondern nur gute und schlechte. In seinem besten Buch übrigens, dem Dorian Gray, führt er den
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