Das katholische Abenteuer - eine Provokation
beschäftigten sich mit dem Krieg in Vietnam, sie waren vorsichtig pazifistisch, aber sicher nicht auf Seiten der Vietcong. Sie beschäftigten sich mit dem Einmarsch der Sowjets in die Tschechoslowakei. Die Misereor-Kollekten dienten den Landlosen in Brasilien und den Hungernden in Biafra. Die Kirche hatte sich weit geöffnet. Sie hatte sich den Armen und Entrechteten und Kämpfenden zugewandt. Sie war sozial, sie war politisiert, aber sie verlor auch ihr Geheimnis, ihre Gegenweltlichkeit.
Engagiert war ich selber. Ich hatte im Marxismus-Leninismus eine neue Religion entdeckt, eine, die ebenfalls begeisterte, die ebenfalls Märtyrer bot, die Opfer verlangte und die eine geschlossene Welterklärung vermittelte. Eines Tages würde sie den Himmel auf Erden aufschließen und alle Menschen wären Brüder. Das alles war gar nicht weit entfernt von Pasolinis Film. Pasolinis Jesus, der im Übrigen sehr genau der Vorlage des Matthäus folgt, spricht seine Rätselworte und Gleichnisse wie Vorgriffe auf ein nahes Paradies. Es ist ein endzeitlicher Jesus, ein revolutionärer Jesus, ein poetisch kämpferischer Jesus.
Die Kirche und ich, wir verloren uns aus den Augen. Das Gleiche galt für mich und meine Eltern. Ich zog in eine maoistische Wohngemeinschaft ein, aber die Madonna, die in unserem Wohnzimmer hing, nahm ich mit. Jesus war sozialrevolutionär. Er war Umstürzler. Er kämpfte für Gerechtigkeit, und die Madonna, die in meinem Zimmer in der WG neben einem Marx-Poster hing, zertrat mit zartem Fuß die Schlange, die sich um die Weltkugel schlängelte. Und natürlich war die Schlange das Kapital. Das war meine private Befreiungstheologie.
Selbstverständlich habe ich das Kapital gelesen und das Monopolkapital von Baran/Sweezy, Letzteres mit dem aufgeregten kabbalistischen Interesse, das man einer Geheimschrift entgegenbringt, in der Begriffe wie »Surplusvernichtung« erläutert werden.
Sicher, ich habe auch die in revolutionärem Kauderwelsch und primitivstem Aufmarsch-Pathos verfassten Flugblätter vor Werkstoren und auf Demonstrationen verteilt, aber ich habe mich nicht wirklich ernsthaft für das neue Betriebsverfassungsgesetz interessiert, gegen das die revolutionären Daimler-Benz-Lehrlinge in ihrem Zentral-Organ, dem Rebell, agitierten.
Die Gegenkultur hat mich immer dann entzündet, wenn sie poetische oder romantische Funken schlug und das ganz andere Leben fest im Blick hatte und oft genug die ganz andere Wirklichkeit, die sich jetzt eher auf LSD-Trips besichtigen ließ. Die Beatles, die zum Maharishi pilgerten, interessierten mich mehr als die, die »Yeah, Yeah, Yeah« sangen, ich war mit den Byrds »Eight miles high«, Jim Morrison sang vom Eidechsenkönig und göttlichen Visionen, und Eric Burdon erklärte »War«. Wir interessierten uns für Schamanismus und psychedelische Pilze und für fernöstliche Weisheitslehren.
Meinen jüngeren Bruder zog es nach Indien (wie übrigens auch Peter Sloterdijk), er ging, um sich zu lockern und die »Repressionen«, den Katholizismus, diesen Komplex aus Schuld und Gewissen, freizuschütteln und das Leben zu tanzen und lachen zu lernen. Auch er suchte dann neuen Halt und fand ihn in der Meditation und dem Studium der buddhistischen Philosophie. Es waren harmlose, spirituelle Lockerungsübungen in jenen Tagen, es herrschte eine schöne Sanftheit, die wirksamer und nachhaltiger und vor allem nächstenliebender war als die mörderische und mörderisch dumme Ballerei der RAF-Killer um Andreas Baader.
Ich hatte Erlebnisse mit meinen Freunden, wie sie von Mystikern beschrieben wurden. Sie liefen allesamt auf die platonische Erkenntnis hinaus, dass es jenseits unserer erfahrbaren Welt noch eine andere gab. Da wollten wir hin. Da ging es um eine andere Form des Betens. Um Versenkung und Meditation. Um Ausschaltung der diskursiven Vernunft und ein Hineinhören ins eigene Ich. Allerdings nahmen wir dann doch die banale Abkürzung – mit Joints.
Ich habe kürzlich bei den Dominikanern in Hamburg eine »Mystische Nacht« besucht, die mich an den Seelenzustand von damals, an diese andere Frömmigkeit erinnerte. Der Mittelgang der dunklen Kirche war von Hunderten von Teelichtern erleuchtet, die das Wort JETZT bildeten. Darüber hinweg schwang ein großes Weihrauchfass. Ein Chor sang mittelalterliche Kirchenmusik. Ein Dominikanerpater meditierte über einen Text von Meister Eckhart. Das alles kam einer religiösen Hippie-Erfahrung sehr nah. Doch diesmal war ich, wie Hölderlin
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