Das Kellerzimmer - Gesamtausgabe
oder?“, flehte sie ihren Freund förmlich an.
„Dann müsste sie aber langsam mal wieder aufwachen. Was ist denn passiert? Nun erzähl endlich mal!“
Sie rang nach Worten. Sollte sie ihm wirklich erzählen, was Chantalle gesagt hatte?
„Wir haben uns gestritten, eigentlich gar nichts Besonderes. Sie hat rumgestichelt, weil ich ein paar Kilo zugenommen hab. Eigentlich wollte ich uns Pizza bestellen, aber sie meinte, ich sei zu fett. Darum hab ich angefangen, einen Gurkensalat zu machen. Als es mir zu blöd wurde, wollte ich mich umdrehen und ihr die Meinung sagen. Sie war aber direkt hinter mir und wir stießen irgendwie komisch zusammen. Sie muss gestolpert sein und… es ging alles so schnell! Diese scheiß Kante, die hat mich schon immer genervt!“ Elaine weinte hemmungslos.
„Und dann ist sie mit dem Kopf auf die Kante geknallt und umgekippt?“
„Ja, glaub schon. Wie lange dauert denn das, bis der Rettungswagen kommt! Ich hol einen kalten Waschlappen!“
Es verging eine halbe Ewigkeit, bis der Krankenwagen kam und Chantalle endlich versorgt wurde. Bei der Frage nach der Versichertenkarte wurde Elaine kurz hysterisch, weil sie diese in Chantalles und Mats’ Wohnung vermutete. Doch ein Griff in Channis Jackentasche brachte die erforderliche Karte hervor. Als die beiden Männer Chantalle in den Rettungswagen schoben, fragte Elaine:
„Dürfen wir mitkommen?“
„Beide nicht, wir sind ja kein Taxiunternehmen. Kommen Sie doch mit dem Auto hinterher, dann sind Sie auch gleich mobiler. Sie können jetzt sowieso nichts ausrichten, wenn Sie neben Ihrer Tochter sitzen.“
„Sehr charmant, wirklich. Okay, ich komme mit meinem, äh, Lebensgefährten dann in das Städtische Krankenhaus. Dahin bringen Sie meine Tochter doch, oder?“
„Ja, melden Sie sich einfach in der Ambulanz, dort erfahren Sie alles Nötige. Alles Gute für Sie.“
Elaine schmiss ein paar Klamotten in eine Reisetasche und überlegte dabei fieberhaft, welche Sachen Chantalle freiwillig von ihrer Mutter anziehen würde. Sie brauchte ein Nachthemd, einen Jogginganzug, Unterwäsche, Socken und Waschzeug. Hausschuhe und Bademantel. Noch irgendetwas? Das musste erst mal reichen für die Klinik, den Rest könnte Mats bringen. In Elaines Kopf purzelten unzählige Gedanken durcheinander. Sie eilte zu Leos Wagen und setzte sich auf den Beifahrersitz. Schweigend ließ Leo den Motor an, sie fuhren stumm zum Krankenhaus. Elaine wusste nicht, worüber sie sich mehr Sorgen machte – darüber, dass ihre Tochter schwer verletzt sein könnte oder dass ihre Beziehung mit Leo nicht so perfekt war, wie sie es sich gedacht hatte.
***
„Ich fühle mich oft minderwertig in unserer Familie. Du bist immer so perfekt… ich hingegen. Wer bin ich denn schon?“ Sören schaute Hanna traurig an. Mit weichgespülter Stimme schaltete sich der Therapeut ein:
„Herr Zielke, können Sie Ihrer Frau und mir noch genauer erklären, warum Sie sich minderwertig fühlen? Hat das einen bestimmten Grund, irgendetwas, das Sie näher erläutern könnten?“
Hanna rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Dieses war ihre zweite Sitzung bei einem Psychologen, der ihnen von der Polizei empfohlen worden war. Seit über zwei Wochen war Kimberley nun schon fort. Hanna konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal länger als zwei Stunden am Stück geschlafen hatte. Manchmal genehmigte sie sich eine Schlaftablette, um sich für etwas längere Zeit außer Gefecht zu setzen. Das waren die wenigen Momente, in denen sie nicht an Kimmy dachte, nicht an all die Gefahren oder daran, dass ihr Kind vielleicht längst tot war. Sonst gab es keine Sekunde, in der das Gedankenkarussell nicht raste. In Hannas Träumen lag ihre Tochter gefesselt und geknebelt in einem Verlies. Sie wurde bedroht, missbraucht, geschlagen und bekam nichts zu essen oder zu trinken. Mal vermutete Hanna ihr Kind zwei Straßen weiter, ein anderes Mal wähnte sie es weit weg in Südamerika, unerreichbar und nicht auffindbar.
Sie las in Internetforen, meldete Kimberley in jeder denkbaren Seite als „vermisst“. Auf Facebook hatte sie ein Profil angelegt, das einzig der Suche ihres Kindes galt. Kimberleys Foto wurde unzählige Male geteilt und verbreitet, doch es tat sich einfach nichts. Kimmy war wie vom Erdboden verschluckt. In ihrer grenzenlosen Sorge war Hanna nicht allein – Sören ging es wie ihr. Wenn es überhaupt etwas Gutes an Kimberleys Weglaufen gab, dann war es die Tatsache, dass
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