Das Kellerzimmer - Gesamtausgabe
Hanna und Sören sich nie näher waren als jetzt. Keiner außer ihnen selbst konnte nachfühlen, wie es den beiden ging. Nur die Großeltern weinten ebenfalls unaufhörlich, doch Hanna und Sören verschanzten sich und konnten Gespräche mit Außenstehenden kaum ertragen, selbst wenn es die eigenen Eltern waren.
Mitten in die schlaflosen Nächte und Tage voller Selbstvorwürfe hinein hatte Sören vorgeschlagen, der Idee der Polizei aufzugreifen und einen Psychologen zur Hilfe zu holen.
„Im Leben nicht, Sören, jetzt noch solch ein Gesülze von einem Psychofritzen anzuhören, das halte ich nicht aus!“, hatte Hanna erwidert. Sollte er doch alleine hingehen. Sie brauchte mit niemandem über ihr Seelenleben zu reden, weil es ohnehin kaputt war, solange Kimmy nicht auftauchte. Aber dann ließ sie sich doch überreden und ging Sören zuliebe mit. Wenn es ihm so wichtig war, würde sie halt die Ohren auf Durchzug stellen. Hanna konnte sich nicht ablenken, weder mit Fernsehen noch mit Musik und sicherlich schon gar nicht in einer psychologischen Praxis.
Beim ersten Termin redete Sören ununterbrochen von Kimberley. Er erzählte dem Therapeuten, einem Mittfünfziger, der aussah wie ein Buchhalter, die Ausstrahlung einer Schlaftablette hatte und permanent an seinen Fingernägeln knipste, einfach alles von ihrem Kind. Von ihrer Geburt, ihrem Dickkopf, den Freunden am alten Wohnort und so weiter und so fort. Hanna verstand nicht, was ihrem Mann das brachte, aber es schien ihn zu erleichtern. Herr Schlüter nickte, stellte zwischendurch überflüssige Fragen und dann war die Stunde vorbei.
Doch dieses Mal platzte Sören mit seinem Minderwertigkeitskomplex heraus. Hanna glaubte, sich verhört zu haben. Ihr Mann und mangelndes Selbstwertgefühl – das war absolut lächerlich! Hanna lachte kalt auf.
„Den Grund deiner Komplexe wüsste ich auch gerne, Sören.“
„Genau das meine ich! Du bist oft so kalt zu mir. Ich überspiele das dann und tu so, als würde mir das gefallen. Nein, falsch. Ich passe mich dem an. Die Leute denken doch, wir sind die perfekte Familie! Viel Geld, dicke Autos, tolles Haus. Du weißt doch genauso gut wie ich, was die Nachbarn über uns denken. Ich sag nur Ingmar Suhrhoff…“
Sören war richtig aufgebracht. Hanna runzelte die Stirn. Tatsächlich waren das die ersten Sekunden seit Kimberleys Verschwinden, in denen sie nicht an sie gedacht hatte. So überrascht war Hanna über Sörens Gefühlsausbruch.
Dieser Schlüter nervte entsetzlich. Schon wieder wollte er einen klugen Kommentar loslassen, doch Hanna fuhr ihm ins Wort.
„Das ist ja absolut lächerlich. Du passt dich mir an – ich glaub es ja wohl nicht! Es ist ja wohl eher so, dass ich ständig versuche in das Bild einer perfekten Frau zu passen. Ich bin fett und habe einen scheiß Job. Du bist der Strahlemann und….“ Sie stockte. Nein, dieses Fass wollte sie nicht aufmachen. Sie waren hier wegen Kimmy und alles andere war sowieso egal. Alles war egal.
„Frau Zielke, sprechen Sie ruhig weiter. Es bleibt alles in diesem Raum. In dieser emotional angespannten Lage kann es sehr befreiend sein, angestaute Aggressionen oder Trauer loszuwerden. Ich will sie nicht zwingen, aber denken Sie ruhig einmal darüber nach.“
Hanna rollte mit den Augen. Genau auf dieses Gelaber hatte sie so gar keinen Bock gehabt. Phrasen, nichts als Phrasen.
„Ersparen Sie mir Ihr Lehrbuchgewäsch, wenn es möglich ist. Das ist vermutlich Psychologie, zweites Semester, richtig? Meine Güte, ich weiß überhaupt nicht, was ich hier soll!“ Sie wollte von ihrem Stuhl aufspringen, doch Sören fing an zu weinen.
„Genau das meine ich“, schluchzte er.
„Sagtest du bereits. Was meinst du genau? Dass ich eine eigene Meinung habe, ist es das, was dir nicht passt? Da muss ich dich leider enttäuschen. Ich habe sehr wohl eine Meinung zu deinem Rumgemache mit all den Weibern!“
Jetzt war es endlich raus. Nach all den Jahren hatte sie das Thema wieder in den Mund genommen, obwohl sie doch längst dazu übergegangen war, seine Fremdgehereien zu ignorieren.
„Ich bin froh, dass du das ansprichst, Hanna. Wirklich“, heulte er immer noch. Hanna verschränkte ihre Arme und starrte ihren Mann hasserfüllt an. Sören jammerte weiter:
„Es ist total scheiße von mir, ich weiß. Jetzt durch diese schlimme Krise gerade, da wird mir erst richtig bewusst, was ich für einen Mist gemacht habe. Wegen mir ist das alles ja erst passiert! Wenn ich nicht ausgezogen wäre,
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