Das Kellerzimmer - Gesamtausgabe
Kimberley sprach einfach nicht darüber. Unbeholfen quetschte Hanna sich neben Kimmy und redete behutsam auf sie ein. Irgendetwas musste sie doch tun!
„Schau, du musst nachsichtig mit dir selbst sein, verstehst du, mein Schatz. Du hast viel durchgemacht und das musst du erst einmal alles verarbeiten. Das geht nicht von heute auf morgen! Du hast alle Zeit der Welt. Wichtig ist einzig und allein, dass du wieder hier bist. Vergiss die Noten und die anderen in der Klasse. Es geht jetzt nur um dich, hörst du, Kimmy?“
„Hm. Aber mir geht es so schlecht, Mama. Mir tut alles so weh. Das hat nichts mit … der Sache zu tun.“
„Aber die Ärzte sagen alle, dass du körperlich okay bist. Körper und Psyche hängen zusammen, meine Süße, das weißt du doch. Das hat nichts mit Schuld zu tun, sondern ist ein normaler Vorgang. Jedem anderen würde es vermutlich genauso gehen, wenn er das erlebt hat, was du erlebt hast.“
Kimberley schwieg. Ihre Mutter hatte keine Ahnung, was sie erlebt hatte. Niemand wusste es und so sollte es auch bleiben. Sie verbot sich jeden Gedanken an die schrecklichen Dinge – erst recht würde sie kein Wort darüber verlieren. Mama sah eh schon wie eine lebendige Tote aus und selbst Papa hatte tiefe Ringe unter den Augen bekommen. Wäre Kimberley nur nicht rüber zu den Suhrhoffs gelaufen; damit war der ganze Mist doch erst losgegangen!
„Was hältst du davon, wenn wir mal Julia zu uns einladen?“, unterbrach Hanna Kimmys Gedanken.
„Welche Julia?“, entfuhr es Kimberley und sie richtete sich entsetzt auf.
„Na, Julia Suhrhoff. Ihr Vater ist wieder zu Hause und ich kann mir vorstellen, dass sie vielleicht auch schwere Zeiten hinter sich hat. Es kann doch sein, dass ihr Freundinnen werdet …“
„Niemals!“, schrie Kimberley und sprang vom Sofa. Kreischend rannte sie hoch in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Keiner verstand sie und ihr wurde bewusst, dass der ganze Horror nicht enden würde, solange sie in dieser Irrenstraße wohnte. Hektisch ließ sie ihre Jalousie herunter, nahm sich ihren MP3-Player und kroch unter die Bettdecke. Nur nicht wieder rauskommen, einfach unsichtbar werden und abwarten, bis sie erwachsen war und für immer verschwinden konnte.
Indes griff Hanna einmal mehr zum Telefon und rief Sören auf dem Handy an. Die Zeiten, in denen er schale Ausreden für seine Seitensprünge benutzte und seinen Anrufbeantworter für sich sprechen ließ, waren vorbei. Hanna kam es vor, als seien Lichtjahre seitdem vergangen. Bereits nach dem ersten Freizeichen erklang seine tiefe Stimme, in die sie sich einst verliebt hatte.
„Ja?“
„Passt es grad? Kimmy hat sich schon wieder eingeschlossen!“
„Ich bin alleine. Ist was passiert? Beruhig dich erst mal!“
„Sie kam früher nach Hause, weil ihr in der Schule wieder so schlecht geworden ist. Sören, sie war kreideweiß und wäre fast umgekippt! Ich mach mir solche Sorgen. Ob wir mit ihr doch nochmal zum Krankenhaus fahren? Sie ist fest davon überzeugt, dass sie krank ist.“
„Ach, Hanna, das haben wir doch schon tausendmal durchgekaut. Ich dachte, wir wären uns einig, dass wir sie erst mal zur Ruhe kommen lassen. Dann muss sie eben noch weiter zu Hause bleiben und wir kümmern uns um ein ärztliches Attest. Soll ich das machen?“
Er war so anders. Wieso hatte erst alles so weit kommen müssen, damit Hanna bemerkte, dass ihr Mann nicht nur ein oberflächlicher Playboy war, sondern durchaus liebevoll und fürsorglich sein konnte? Sören hatte ja recht.
„Stimmt, ich weiß. Aber ich kann sie doch nicht da oben wieder stundenlang alleine liegen lassen. Als ich vorschlug, dass ich Julia Suhrhoff einladen könnte, damit die beiden sich mal ausquatschen, so von Mädchen zu Mädchen, da ist Kimmy total ausgerastet! Verstehst du das?“
„Nee, hm, versteh ich auch nicht. Du, Hanna, ich muss noch ein bisschen was tun, aber ich seh zu, dass ich früher zu Hause bin, ja? Ich bring uns was zu Essen mit, dann kannst du dich noch ausruhen.“
Ratlos beendete Hanna das Gespräch. Sie hatte Angst vor der grausamen Wahrheit, vor dem, was ihrer Tochter widerfahren war. Einerseits ahnte sie es, anderseits schob sie Tag für Tag, Stunde für Stunde die Bilder zur Seite, die sich in ihre schrecklichsten Phantasien schlichen. Wie Kimmy und die ganze Familie dieses Erlebnis jemals verarbeiten sollten, war Hanna schleierhaft.
***
Leo war genauso langweilig wie ihre Mutter. Nur wenige Tage, nachdem Chantalle ihre
Weitere Kostenlose Bücher