Das Kellerzimmer - Gesamtausgabe
die Schule denken. Dass sie sich darüber mal freuen würde, hätte sie vor einem halben Jahr auch nicht für möglich gehalten! Aber jetzt war es tatsächlich so: Sobald sie nicht an die schlimme Zeit dachte, fühlte sie sich ganz normal und gesund. Die restliche Zeit meinte sie zu sterben. Kimberley wäre gerne gestorben. Am liebsten hätte sie eine schlimme Krankheit bekommen, wegen der sie nicht mehr in die Schule konnte und stattdessen in einem Krankenhaus langsam vor sich hin krepierte. Benebelt von all den Medikamenten und abgelenkt von den ständigen Besuchen ihrer besorgten Eltern, würde sie sonst nicht mehr viel mitbekommen. Und eines Tages wäre sie einfach weg.
Aber leider war sie nicht körperlich krank, nur psychisch, meinten die Ärzte. Ihr tat trotzdem dauernd alles weh, doch niemand glaubte ihr. Sie bildete sich doch die Kopfschmerzen und diesen ständigen Druck im Bauch nicht ein – ätzend war das! Auch jetzt gerade, während der scheiß Mathelehrer irgendwelche Zahlen an die Tafel kritzelte, meinte Kimberley sich übergeben zu müssen. Sie meldete sich, doch nichts geschah. Dann ging es nicht mehr. Sie sprang auf und rannte zur Tür.
„Tschuldigung, mir ist schlecht.“
Die anderen in der Klasse glotzten blöd und auch dem Lehrer fiel nichts ein. Man kannte das schon. Seit drei Wochen ging sie jetzt wieder zur Schule. Keiner wusste, wo sie die Wochen zuvor verbracht hatte. Auf dem Schulhof wurde viel spekuliert, aber keiner wusste was Genaues. Das war auch gut so. Wer weiß, wie blöde die dann erst gucken würden, dachte Kimberley, während sie über dem Klo hing und sich die Seele aus dem Leib kotzte. Es gab nur ein Gutes an diesem ganzen Drama, fand Kimmy: Sie war endlich gertenschlank. Aber richtig freuen konnte sie sich darüber doch nicht. Wenn sie gleich zu Hause war, wollte sie ihrer Mutter noch einmal erklären, dass sie garantiert krank sei. Kein Mensch kotzte ständig ohne Grund – das war doch nicht normal.
Sie brauchte bis zur nächsten Pause, um sich wieder einigermaßen zu sammeln. Zurück im Klassenraum, meldete sie sich beim Lehrer ab. Während er ihr mit einer Mischung aus Trauer, Unverständnis und Mitleid nachsah, machte sie sich auf den Weg nach Hause, zentnerschwere Gefühle mitschleppend. Sie schlich durch den Schnee, Bilder tanzten in ihrem Kopf. Sie spürte, wie sich ihr Körper immer weiter aus ihrem Bewusstsein entfernte. Der Geruch eines ungelüfteten Zimmers stieg ihr in die Nase. Sie hörte Schreie, gehässiges Lachen, das Geräusch von Fäusten auf einer Nase. Jemand riss ihr an den Haaren. Kurz blieb sie stehen, atmete tief ein und aus und trat dann mit dem Fuß kräftig an einen Baumstamm.
Sie bemühte sich, an nichts zu denken. Das klappte auch ganz gut, aber der Teil ihres Gehirns, den sie nicht unter Kontrolle kriegte, feuerte weiter seine Botschaften. Sie sah sich selbst, wie sie unter schwitzenden Männerkörpern lag und stumme Schreie aussandte. Sie sah sich nackt vor der Dusche liegen, unfähig auch nur noch eine Bewegung zu machen. Papa über dem Krankenbett. Die Polizisten, als sie den Puff stürmten. Mama weinend. Gefangen in dem engen Raum, mit dem alles anfing. Wie gerne würde sie jetzt schreien, aber aus ihrer Kehle kam nichts. Sie sackte zusammen, Tränen flossen ihr übers Gesicht und tropften in den Schnee. Als der Vibrationsalarm ihres Handys losging, erschrak sie bis ins Mark. Sie nahm das Gespräch an – Mama wollte wissen, wo sie ist, die Schule hatte sie informiert. Kimberley versprach, gleich da zu sein, sprang auf und rannte ihrem Kopf und all dem, was sich darin verbarg, davon. Mama nahm sie wortlos in den Arm, als Kimberley ins Haus stürzte. Früher hätte sie gemeckert, wenn sie sich die Füße nicht abgeklopft hätte. Aber das war früher. Heute gab es überhaupt keinen Ärger mehr.
„Schatz, geht es dir nicht gut? Oh Mann, du bist ganz weiß, meine Süße!“, jammerte sie hilflos und strich ihrer Tochter übers Haar, die sich ganz schwer machte und keine Körperspannung mehr zu haben schien.
„Kimmy! Kimmy! Nicht ohnmächtig werden, hörst du, Kimmy!“
Der Teenager berappelte sich etwas und Hanna brachte ihre Tochter zum Sofa. Gut, dass Elaine gerade gegangen war, dachte sie, sonst müsste sie sich noch Sprüche anhören von wegen „Ein bisschen Show ist aber vermutlich auch dabei“ und ähnlichen Blödsinn. Von wegen Show. Ihr armes Kind war traumatisiert und keiner außer ihr selbst wusste, was genau geschehen war.
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