Das Kellerzimmer - Gesamtausgabe
auswendig. „Was meint sie eigentlich mit egoistischer Art ? Was ist in diesem Hause denn eigentlich los, wenn ich mal nicht hier bin?“
„Das ist ja wieder mal typisch! Jetzt ist es meine egoistische Art! Sie schreibt doch deutlich eure egoistische Art! Es geht um uns beide, du… Arschloch!“
Hanna war völlig aufgelöst und heulte wie verrückt. Die schwarze Wimperntusche hatte die ganze Beerdigung über gehalten, aber nun lief sie in hässlichen Linien an den Wangen herunter. Elaine schaute vom Sofa aus dem aufgeregten Treiben zu und mischte sich ein:
„Die Polizei sagt, dass sie erst morgen mit dem Suchen beginnen würden. Vermutlich taucht Kimmy heute Abend von ganz alleine wieder auf, weil sie Schiss bekommt. So sei das bei den meisten Kindern.“
„Was?“, fauchte Sören. „Dann fahr ich gleich nochmal hin zu den lahmen Säcken! Die sollen gefälligst unser Kind suchen! Wo kann sie denn überhaupt hin sein? Hast du eine Ahnung, Hanna? Ob sie zu ihren alten Freunden will? Sie war ja schon ganz schön einsam hier.“
„Sprich nicht in der Vergangenheit von ihr! Sie ist ja nicht tot!“
„Gott, Hanna, so mein ich das doch nicht. Aber wo kann sie hin sein, hast du eine Idee? Hast du ihre Klassenkameraden mal angerufen?“
„Ja. Keiner hat eine Ahnung, wo sie stecken könnte. Ich auch nicht. Ich weiß doch schon seit Wochen nicht mehr, was in ihrem Kopf vor sich geht. Wir sind schuld daran, Sören, wir haben alles kaputt gemacht! Oder besser gesagt: du! Mit diesem….“
Betroffen blickte Hanna zu Boden und Sören zu Elaine. Diese zuckte mit den Schultern und erhob sich.
„Ich geh erst mal nach Hause. Meld dich, Hanna, wenn es was Neues gibt, ja?“
„Ja. Danke, Elaine“, schniefte Hanna und begleitete die Freundin zur Tür.
Als Elaine weg war, ging Sören auf seine Frau zu und nahm sie in die Arme. Was war nur aus ihnen geworden? Sie hatten ihre eigene Tochter verloren. Na klar, als Teenager hatten auch er und Hanna sicherlich mal darüber nachgedacht wegzulaufen. Aber es dann wirklich zu tun – soweit waren beide nie gegangen. Wie unglücklich Kimmy sein musste!
„Schatz“, murmelte er in Hannas vertrauten Haarschopf. Sie widersprach nicht. „Wir wissen beide, warum Kimmy abgehauen ist. Bitte lass mich wieder nach Hause kommen! Und wenn es auch erst mal nur für die Kleine ist. Wir finden schon einen Weg für unsere Probleme, aber unser Kind geht vor!“
„Ja, okay“, weinte Hanna verzweifelt. „Aber wir müssen sie doch erst einmal finden! Ich habe überhaupt keine Idee, wo sie sein könnte! Was alles passieren kann, ich mache mir solche Sorgen, Sören!“
„Ich mir auch. Ich kann hier nicht einfach so rumsitzen, das macht mich wahnsinnig. Bleib du hier, falls sie sich meldet oder auftaucht. Und ich fahr rum und such sie. Zuerst geh ich aber nochmal zur Polizei. Die sollen gefälligst was tun!“
Hanna ging in das Zimmer ihrer Tochter, durchwühlte alle Schränke und Schubladen, während Sören sich auf die Suche machte. Außer traurigen Gedichten und düsteren Bleistiftzeichnungen fand sie nichts – keinen Hinweis auf einen Ort, an dem Kimberley sich gerne aufhalten würde.
Der Gedanke an ein Buch aus ihrer Jugend setzte sich in ihrem Kopf fest. Sie war damals völlig fasziniert von Wir Kinder vom Bahnhof Zoo gewesen, hatte die wahre Geschichte der Christiane F. gleich mehrmals hintereinander gelesen. Erst kürzlich hatte sie Kimmy vorgeworfen, dass sie in deren Alter viel mehr gelesen hatte – eben auch jenes Buch! Vielleicht hatte sie ihr eigenes Kind auf die schreckliche Idee gebracht, nach Berlin auszubüchsen, wo es nun auf dem Babystrich anschaffen wollte, um Geld für Heroin zu beschaffen! Hanna musste unbedingt jeder Spur nachgehen und überall nach Kimberley suchen, auch in Berlin. Sie würde alles tun, wenn sie nur ihre Kleine wieder hätte! Von ihr aus könnte Sören auch sofort wieder einziehen; alles war ihr egal, wenn sie nur Kimmy gesund zurückbekäme!
***
Es gefiel Kimberley in Altona. Sie beschloss, für diese Nacht dort zu bleiben. Zum Hauptbahnhof könnte sie immer noch fahren und offensichtlich war Hamburg ganz schön groß. Kimberley studierte immer wieder die Fahrpläne der S- und U-Bahnen und fühlte sich unglaublich selbstständig und vernünftig. Ihre Eltern hatten keine Ahnung, wie gut sie allein klarkam. Der Bahnhof war viel größer, als das Mädchen angenommen hatte. Wenn das hier schon so groß war, wie gewaltig würde ihr dann erst die
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