Das Kellerzimmer - Gesamtausgabe
Männer, keine Frau. Lisa setzte ihren Kleinmädchenblick auf und guckte wie ein junges Reh.
„Endlich sind Sie da“, wisperte sie erschöpft und entkräftet. „Ich kann nicht aufstehen, irgendwas ist mit meinem Bein. Und mein Rücken tut auch so weh.“
„Wir heben Sie jetzt vorsichtig auf die Trage und bringen Sie ins Krankenhaus. Vorher sorgen wir dafür, dass Ihr Körper Flüssigkeit bekommt.“
Mit hängenden Augenlidern nickte Lisa. Sie legten ihr einen Tropf und betteten sie zuerst auf eine Art Luftmatratze und dann auf die Trage. Lisa fühlte sich, als würde sie einer Sendung im Vorabendprogramm folgen. Dort wurden auch häufig Menschen in dramatischen Situationen aus Schluchten gerettet. Sie verhielt sich so, wie sie es aus einem spannenden Film auch erwartete: schwach, leise wimmernd und folgsam.
„Frau Suhrhoff, wissen Sie, wie lange Sie hier schon liegen?“, fragte ein Polizist.
„Die Patientin braucht jetzt erst einmal Ruhe. Sie hat vermutlich einen schweren Schock. Können Sie Ihre Fragen nicht später stellen?“, fuhr der Notarzt den Polizisten an. Fürsorglich versorgte er Lisa und sie fühlte sich behütet und schwerelos.
„Ein paar Fragen sind wohl erlaubt. Frau Suhrhoff, wie sah der Täter oder die Täter aus?“
„Ich weiß nicht… Es war nur einer. Ich konnte nicht viel erkennen, weil er eine Maske auf hatte und alles in schwarz war. Ich bin so müde, entschuldigen Sie bitte.“
„Wie lange sind Sie denn hier schon alleine? Seit wann ist der Täter auf der Flucht?“
„Schon ewig. Der hat mich hier runtergeschubst und ist dann abgehauen. Vor zwei Tagen also.“
Hoffentlich glaubte man ihr das. Lisa wurde jetzt tatsächlich sehr müde und nickte fast ein, als die Männer sie quer durch den Wald schleppten. Im Krankenwagen war es warm und fast gemütlich. Lisa fühlte sich wohl. Alle waren so freundlich zu ihr und machten sich große Sorgen. Sie spürte genau, dass einige Männer sie trotz Dreck und Gestank attraktiv und begehrenswert fanden. Gerne hätten sie sich weiter um diese hübsche und zarte Frau gekümmert. Doch sie mussten sie im Krankenhaus zurücklassen, wo es weiterging mit der fast liebevollen Versorgung.
Sie ließ alles über sich ergehen und nickte oder weinte an den passenden Stellen. Zukünftig wollte Lisa besser darauf aufpassen, dass man sie nicht als psychisch gestört abstempelte, denn in die Irrenanstalt ginge sie sicherlich nicht mehr zurück. Vorerst wollte sie hier in diesem modernen Krankenhaus bleiben, indem man sie wie eine Privatpatientin behandelte und aufpäppelte. Beruhigt kuschelte sie sich in ihr Kopfkissen und nickte wieder ein. Alles würde gut werden. Bis es soweit war, wollte sie einfach nur schlafen.
***
Aus den Boxen hinter ihnen dröhnten die Bässe unnachgiebig. Die schrecklichen Männer hörten Heavy Metal – und das in einer Lautstärke, von der man schon unter normalen Umständen Bauchschmerzen bekäme. Kimberley und Lea saßen stumm, müde und verängstigt auf dem Rücksitz des verdreckten Wagens, der über die Straßen raste. Benny und der Pockentyp redeten kaum. Wenn sie sprachen, dann nur um die Mädchen in kurzen Sätzen anzuschnauzen.
„Haltet ja die Fresse, wenn uns die Bullen anhalten! Ihr seid tot, wenn ihr quatscht, verstanden? Ein mieser Trick und das war’s.“
Sie sagten noch viel schlimmere Dinge. Kimberley dachte, sie hätte in ihrer kurzen Zeit als Straßenmädchen schon ausreichend vulgäre Sprüche kennengelernt. Doch was ihre Entführer von sich gaben, war so unterirdisch, dass sie ihren Verstand so gut es ging abschaltete. Wenn ihre Mutter wüsste, was Kimmy gerade erlebte… nein, das könnte sie nicht ertragen. Kimberley konnte es selbst nicht ertragen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie gefesselte Kinder, die zu gemeinen Sexspielen gezwungen wurden. Davon hatte sie sowohl in der Schule als auch im Fernsehen gehört und nicht im Entferntesten daran gedacht, dass ihr jemals so etwas zustoßen könnte. Sie versuchte sich andere Szenarien auszumalen. Was könnten die Verbrecher noch mit Lea und ihr vor haben? Um sie einfach nur umzubringen, müssten sie sie doch nicht stundenlang durch Deutschland fahren! Immer wieder landete Kimberley bei dem Ergebnis, dass es um erzwungenen Sex ging. Das war schlimmer als zu sterben.
Auch Lea wirkte abwesend; so als habe sie sich längst aufgegeben. Am liebsten hätte Kimberley die Hand ihrer Freundin genommen, aber bisher hatten sie solche Dinge auch nicht getan.
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