Das Kellerzimmer - Gesamtausgabe
wütend.
„Chantalle! Kommt, setzt euch beide rüber an den Esstisch, dann mach ich uns Frühstück.“
Chantalle hob die Augenbrauen und lächelte spöttisch. „Wie du meinst… Mutti.“
Am Tisch ging es weiter. Chantalle flirtete Leo an, dass Elaine regelrecht schlecht wurde. Und er machte mit. Oder bildete Elaine sich das nur ein? Sie konnte schon gar nicht mehr klar denken und kam jede Minute zu einem anderen Schluss. Nein, Leo flirtete nicht, er war nur höflich. Doch, natürlich, die beiden amüsierten sich heimlich über die spießige, alte Frau. Das war einfach unglaublich! Nach einer Stunde Spießrutenlaufen erhob Chantalle sich endlich und verabschiedete sich mit Küsschen bei ihrer Mutter. Das machte sie sonst nie. Elaine ahnte, was jetzt kommen würde. Tatsächlich, Chantalle stolzierte zu Leo und hauchte ihm einen Kuss direkt neben dessen Mund.
„Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder. Wäre bestimmt sehr interessant. Auch meine Mutter scheint ja begeistert von dir zu sein… Tschüss.“
Ohne sich umzudrehen, verließ sie das Haus und brauste davon. Elaine und Leo blieben schweigend sitzen. Er rührte seelenruhig in seinem Kaffee herum. Am liebsten hätte sie ihm eine Szene gemacht, aber das wäre völlig albern gewesen. Es war ja ihre Tochter, die sich daneben benommen hatte.
„Es tut mir leid“, sagte Elaine.
„Was denn?“ Erstaunt sah Leo auf. Völlig unverändert, ihr zugewandt und lieb. Vielleicht hatte sie sich das alles auch nur eingebildet.
„Dass meine Tochter hier so eine Show abgezogen hat. Ich weiß auch nicht, warum sie sich immer so produzieren muss. Das ist einfach so peinlich, Leo. Du musst ja sonst was von uns denken.“
„Ach, Quatsch, die ist doch ganz süß. Ich fand’s in Ordnung. In dem Alter probiert man sich eben noch aus. Hast du das nicht gemacht?“
„Ich? Nee“, lachte Elaine bitter auf. „Das hätte ich mich nie getraut. Würde ich mich heute noch nicht trauen. Das hat Channi nicht von mir!“
„Mach dir keine Gedanken, mein Schatz. Jetzt kennen wir uns wenigstens und das erste Eis ist gebrochen.“
Ja, dachte Elaine, aber hoffentlich bricht nicht noch mehr. So wie Chantalle in Fahrt gewesen war, traute sie ihr noch viel mehr zu. Leo sollte unmöglich etwas von ihrer Angst mitbekommen. Sie stand auf und umschlang ihn mit beiden Armen, das mulmige Gefühl blieb.
***
Dass Lisa sich jemals darüber freuen könnte, in einem Krankenhausbett zu liegen, hätte sie noch vor einigen Tagen nicht geglaubt. Aber es war so. Endlich war sie sicher und konnte in Ruhe schlafen. Sie war so unglaublich müde. Es waren nicht nur die vielen Schlafmittel, die man ihr gab, sondern auch eine Müdigkeit, die von tief innen kam. Je tiefer sie schlief, desto weniger träumte sie. Das war herrlich, denn es waren jene Momente, in denen nichts mehr da war außer der wärmenden Decke und der leisen Musik aus dem Radio der Zimmernachbarin. Lisa fand es wunderschön, wenn sie nicht von Ingmar träumte, ihre Kinder für einige Stunden vergessen konnte und wenn sie niemanden neben sich glaubte, der sie fotografierte oder beobachtete.
Zwei ganze Tage hatte sie im Wald gelegen, bis ein Schäferhund bellend auf sie zugerannt kam. Sie war längst zu schwach gewesen, um noch irgendwelche Rufe von sich zu geben. Ihre Stimme war bereits weg, ihre Kräfte entschwunden. Selbst die Schmerzen im ganzen Körper merkte sie kaum. Da es häufig regnete und sie sich außerdem mühsam zum kleinen Flusslauf runtergerobbt hatte, konnte sie genügend trinken. Lisa war sich sicher, im Wald zu sterben und gewöhnte sich von Stunde zu Stunde mehr an den Gedanken. Sie hatte abgeschlossen mit diesem Leben, das seit Monaten nicht mehr ihres zu sein schien. Erbärmlich, was aus der großen Liebe zweier attraktiver junger Menschen geworden war. Der Mann im Knast, die Frau hilflos, allein und verletzt im Dreck liegend, die Kinder zu den Großeltern abgeschoben. Zu Hause lag bestimmt der Staub zentimeterdick auf ihren hübschen Möbeln. Vielleicht wurde in der Klatschpresse über das Kellerzimmer berichtet mit Fotomontagen ihrer Person und fiesen Mutmaßungen.
Während Lisa vor sich hindämmerte, malte sie sich ihre eigene Beerdigung aus. Ingmar würde zusammen mit einem Polizisten zur Trauerfeier seiner geliebten Frau kommen dürfen. Er sähe schrecklich aus, dünn und mitgenommen. Schützend legte er seine Arme um Julia und Sebastian und mühte sich, die Tränen zurückzuhalten. In der Kirche spielten sie
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