Das Keltenkreuz
Antwort hatte.
»Ich habe ihn wegschaffen lassen. Zu meinem Freund, dem Bildhauer, unten im Keller. Dort hat er seine Werkstatt. Er wird ihn getötet haben, um ihn anschließend als Modell zu benutzen, denn er ist ein wirklich guter Bildhauer. Er hat uns viel geholfen. Manche der alten Statuen restauriert und auch neue geschaffen. Die Leichen dienen ihm als Vorbilder. Wenn er sie nicht mehr braucht, werde ich die Toten dem Meer übergeben. So einfach ist es.«
»Sie sind kein Mensch mehr. Sie sind grausam, Martin!«
»Ohhh…« Er lächelte. »Ich fühle mich nicht als Gott oder Götze. Ich bin schon noch ein Mensch, aber ich bin dabei auf dem besten Weg, zu einem höheren Wesen zu werden, weil ich die Kraft des Keltengottes Lug bei und in mir weiß.«
»Das halten Sie nicht durch, Martin!« flüsterte Vivian. »Nein, das schaffen Sie nicht. Es wird auffallen, wenn John Sinclair und ich nicht mehr zurückkehren. Man wird kommen und Iona auf den Kopf stellen, glauben Sie mir.«
»Das kann schon sein, Vivian. Bis dahin wird aber Zeit vergangen ein, und die Zeit arbeitet für mich, das solltest du nicht vergessen.« Er nickte ihr zu und richtete sich auf. Mit der freien Hand wies er auf das Fenster.
»Der Tag ist schon so gut wie vorbei. Schau nach draußen, wo die Dunkelheit allmählich kommt. Sie ist unser Freund, sie ist der große Schatten, der auch mich beschützen wird.«
»Wobei?«
»Ich werde zum Kreuz gehen und mich weihen lassen. Ich bekomme die Weihe des Keltengötzen Lug.«
»Und dann?«
»Kehre ich zurück.«
In Vivian stieg etwas hoch, das ihre Kehle zuschnürte. Die Frage war wichtig, weil sie sie betraf, aber sie konnte sie einfach noch nicht stellen.
Ihr Mund zuckte, sie mußte sich räuspern, dann befeuchtete sie die Lippen.
Der Abt lachte widerlich auf. »Ich weiß, was du denkst, kleine Vivian, ich weiß es genau. Aber auch du bist einen Schritt zu weit gegangen. Ich kann dich nicht am Leben lassen. Wir werden die Truhe noch mit Steinen füllen, damit sie das richtige Gewicht bekommt. Danach werden wir sie im Meer versenken.«
Vivian schwieg. Sie konnte nichts mehr antworten. Die Ungeheuerlichkeit dieses Plans hatte ihr die Sprache verschlagen. Das war einfach zuviel für sie gewesen. Noch immer stumm verfolgte sie mit den Blicken die Bewegung des linken Zeigefingers, der zuckend nach unten deutete. Sie wußte, was der Abt damit meinte.
So duckte sich Vivian, weil sie wußte, daß der Deckel jetzt geschlossen werden sollte. Es hatte auch keinen Sinn, den Abt anzugreifen. Sie wollte nicht erschossen werden und versuchen, in der Zeit, die ihr blieb, aus dieser verdammten Truhe zu entkommen. Sie setzte sich geduckt hin, schaute den Abt dabei aber an. Er schloß die Truhe.
Die Helligkeit um sie herum verschwand intervallweise. Bevor sich die Dunkelheit über sie legen konnte, schaffte es Vivian, so etwas wie einen Abschiedsgruß auszusprechen.
»Ich verfluche dich, Abt Martin. Ja, ich verfluche dich!« Er lachte nur.
Dann klappte er den Deckel zu. Finsternis. Angst!
Vivian schrie nicht. Sie mußte plötzlich weinen, und sie ließ ihren Tränen freien Lauf…
***
Ich ging durch das Kloster und hatte mit Blicken aus dem Fenster festgestellt, daß der Tag vorüber war und die Dunkelheit bereits von der Insel Besitz ergriffen hatte. Wenn es hier dunkel wurde, dann eben richtig, denn viele Lichter gab es auf diesem Eiland nicht.
Das Kloster war mir fremd, und es kam mir auch leer vor. Ich schlich durch düstere Flure, in denen hin und wieder ein Licht brannte. Ich öffnete Türen, schaute in die Schlafräume der Besucher, die allesamt leer waren. Dort standen nur die schlichten Betten mit den grauen Decken darauf.
Auch Mönche waren mir nicht begegnet, und das wunderte mich wirklich.
Das Kloster war auch bei meiner Ankunft nicht leer gewesen, und ich konnte mir nicht vorstellen, daß die Mönche so einfach verschwunden waren.
Hielten sie sich versteckt?
Ich wußte es nicht, aber ich wollte das Arbeitszimmer des Abts finden.
Es war für mich wichtig, mit ihm zu reden, denn er hatte hier das Sagen, und er hatte auch die Seiten gewechselt. Ich mußte ihn stellen. Ich wollte auch erfahren, welche Kraft das Kreuz wirklich in sich barg. Mit dem, was ich bis jetzt wußte, durfte ich mich einfach nicht zufriedengeben. Als ich die Schritte hörte, suchte ich blitzschnell nach einer Deckung. Sehr weit vom Eingangsbereich und vom Arbeitszimmer des Abts war ich nicht entfernt. Ich hoffte, daß
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