Das Kind, Das Nicht Fragte
und lateinischen
Literatur ist keine Schwärmerei, sondern eine Liebe zum Seltenen, die mit Arbeit und Lernen zu tun hat. Griechisch und Lateinisch gut sprechen zu können ist etwas Seltenes und mit Arbeit verbunden, Sie heben sich dadurch von anderen Menschen ab. Haben Sie viele Freundinnen?
Wir setzen uns, und ich genieße dieses Gespräch bereits jetzt. Sie ist niemand, der jetzt mit Wendungen wie ach, mein Gott! oder Was Sie nicht alles wissen! Komplimente austeilt, sondern sie hört sich alles genau an, wägt es ab und antwortet mit klaren Aussagen und ohne alle Jungmädchenallüren. Sie antwortet, dass sie drei bis vier Freundinnen habe, dass es aber keine wirklich guten Freundinnen, sondern nur Mitschülerinnen seien, mit denen sie eine Art Freundschaft auf begrenzte Zeit eingegangen sei. Nach Jungs frage ich nicht, ich möchte sie nicht in Verlegenheit bringen (und außerdem glaube ich ja, Bescheid zu wissen). Ich frage sie nach dem zweiten Studienfach, über das sie nachdenkt, nach Architektur, und heraus kommt (nach einigen guten, mit Bedacht nicht gezielt auf das Thema zusteuernden Fragen), dass sie ihren Vater in den letzten Jahren manchmal zu Besichtigungen von Bauland sowie von Neu-oder Umbauten begleitet hat (ihr Vater ist auch Vorsitzender des städtischen Bauausschusses.). Architektur ist im architektonisch überalterten Mandlica ein großes Thema, deshalb wäre das auch etwas für sie. ( Architektur wäre aber auch ein Vater-Thema , während Griechisch und Latein ein Ego-Thema wäre. Was ist aber mit Ihrer Mutter? Warum taucht sie nicht auf?) – Gibt es noch etwas Drittes, das Sie interessieren könnte?
– Ja, das gibt es.
– Und dieses Dritte wäre?
– Es wäre das Fach Ethnologie.
Darauf bin ich nicht gekommen, und darauf wäre ich nie gekommen. Ethnologie ist auf dieser Insel ein absolutes Fremdwort, niemand hier hat je davon Genaueres gehört. Es ist etwas vollkommen Rares – und, na bitte, es ist … etwas Seltenes! –, ich hätte also doch darauf kommen können, dass sie sich für Ethnologie interessiert. Sie glaubt jedoch, dass ich ihr Interesse an Ethnologie für ein oberflächliches Interesse halten könnte, obwohl sie solche oberflächlichen Interessen nicht hat. Wenn sie von Ethnologie spricht, hat sie sich bestimmt informiert und längst auch ethnologische Klassiker gelesen. Da wette ich, und mit einer Frage genau danach mache ich weiter.
– Sie haben also Malinowski gelesen? frage ich.
– Ja, antwortet sie und beginnt nun wahrhaftig, mir zu erklären, was sie an Malinowski und seiner Theorie zur Teilnehmenden Beobachtung so beeindruckt hat. (Sie spricht wieder fehlerfrei und ohne Stocken, es ist ein Sprechen wie das einer überaus klugen Assistentin in einem universitären Seminar. Sie bringt jetzt mal eben fünf Minuten gezielter Information in das Seminar ein, sie nimmt dem gelangweilten Professor, der es leid ist, immer weiter Standardwissen zu vermitteln, diese Informationsnummer ab. Und sie macht es natürlich besser, als er es hätte machen können.)
Ich unterbreche sie vorsichtig und platziere eine Frage, die von der Ethnologie etwas wegführt: – Zu welchem Ihrer drei Studienpläne rät denn Ihre Mutter?
– Meine Mutter ist Sängerin, sie ist viel auf Tournee. Sie ist enttäuscht, dass ich keine Musik mache wie sie. Sie hält Musik für das einzige Wichtige im Leben, alles andere ist sinnlos, Nirwana, diffuses Gehampel. Sie hat mir aber nie gesagt, dass sie enttäuscht sei, wenn ich mich für etwas anderes entscheide, sie sagt so etwas nicht. Ich verstehe mich sogar sehr gut mit ihr, und manchmal begleite ich sie auf ihren Tourneen. Für mich sind wunderbare Erfahrungen damit verbunden. Aber bei meinem Studium kann sie mir leider nicht helfen.
– Ihre Mutter singt auf den großen Bühnen? Sie singt in Venedig oder sogar in Mailand?
– Ja, das auch. Sie singt aber vor allem in den vielen kleinen Opernhäusern, die es auf dem italienischen Festland gibt. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, wie viele es davon gibt. Touristen kennen sie meist nicht, aber es gibt sie.
– Ich würde mich nicht als Touristen bezeichnen, aber Sie haben recht, ich weiß von all diesen Opernhäusern nichts.
– Könnte man über dieses Thema eine ethnologische Studie schreiben? Das würde mich sehr interessieren.
Mich auch! hätte ich beinahe laut gesagt, denn natürlich ist dieses Opernhausthema ein geradezu ideales Thema für ethnologische Forschung. Ich brauche bloß daran
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