Das Kind, Das Nicht Fragte
meinem Leben. Wenn ich jetzt meine Brüder in Köln anrufen würde und ihnen erzählte, was gerade geschehen ist, würden sie mir niemals glauben. Unser Benjamin, an der Spitze eines großen EU-Projekts, mitten in Sizilien?! Unmöglich! Und was soll ich sagen? Sie haben recht, es war ja auch unmöglich, vor einiger Zeit wäre das noch undenkbar gewesen. Ich wäre mitten im Gespräch mit Enrico Bonni davongelaufen, ach was, es wäre nie zu einem solchen Gespräch gekommen! Keiner in Mandlica wäre auf meine eigensinnigen Forschungen aufmerksam geworden, ich hätte meine Zeit in den Zimmern unter dem Dach einer kleinen Pension zugebracht und wäre dann unbemerkt wieder abgereist!
Das Gespräch mit Bonni aber zeigt mir, wie sehr ich mich verändere und mich bereits verändert habe. Hier in Mandlica ist aus dem extrem scheuen Ethnologen Benjamin Merz, der bei seiner Ankunft auf Sizilien nicht einmal einen Wortwechsel mit den Stewardessen seines Fluges hinbekam, ein anderer Mensch geworden. Ein Mensch, dem man zutraut, Gremien und Kommissionen zu leiten und vor hohen Institutionen der EU zu reden! ( Bin ich mir da ganz sicher? Könnte es nicht wieder Rückfälle geben? Ja, es stimmt, es könnte wohl noch Rückfälle geben. )
– Sie sind also im Notfall bereit? fragt Bonni nach.
– Grundsätzlich ja, antworte ich. Wir müssten die Details natürlich noch genauer besprechen und schriftlich fixieren. Für
einen Teller Pasta arbeite ich nicht, und ich brauche eine kleine Mannschaft, mit der ich mich gut verstehe.
– Haben Sie schon jemandem im Auge?
– Ja, sage ich, ich denke an Alberto, den Buchhändler, an Giulio Frattese, den Architekten, und an eine ältere Mandlicanerin, deren Namen ich noch nicht nennen möchte. Sollte ich die Aufgabe übernehmen, werde ich als Erstes nach Lyon fahren, um mit Griolet länger zu sprechen.
– Woher wissen Sie, dass er in Lyon wohnt?
– Ich kenne ihn gut, ich habe mich hier in Mandlica mit ihm getroffen.
– Das ist aber jetzt doch ein Scherz, nicht wahr? Sie machen Witze!
Ich ziehe mein Portemonnaie aus der Hosentasche, öffne es und hole Griolets Visitenkarte heraus. Ich lege sie neben Bonnis Teller, auf dem sich jetzt das Hauptgericht ( Rouladen von der Kalbslende mit Meerfenchel ) befindet. Ich genieße, wie er stutzt und die Karte von vorn und hinten studiert, und ich sehe, wie sein leicht alkoholisiertes Lächeln wächst und er Züge eines hellenistischen Eroberers annimmt.
– Das ist ja nicht zu glauben , sagt er, Sie lassen mich reden und reden, und Sie selbst haben längst die Kontakte geknüpft. Worüber haben Sie denn mit Griolet gesprochen?
– Über sizilianische Lyrik, antworte ich. Ich habe seiner Frau und ihm einen Vortrag über die selten schönen Verse unseres Nobelpreisträgers gehalten.
– Von Lyrik verstehen Sie also auch etwas?
– Natürlich, Sie sollten doch wissen: Stilisten vom Schlage Cäsars verstehen auch etwas von den Versen Ovids.
Dieser Satz hatte noch gerade gefehlt. Als Enrico Bonni ihn hört, lacht er wieder so laut, dass alle Gäste im Restaurant sich nach ihm umdrehen. Und da ihn die meisten kennen, beginnen nun auch die Gäste zu lachen. Unser Bürgermeister lacht! Es geht ihm gut! Prosten wir ihm doch zu! Und vergessen wir seinen deutschen Tischnachbarn nicht! Salute! Salute! Enrico Bonni und ich – wir heben unsere Gläser und prosten den anderen Gästen zu, selbst Lucio ist aus der Küche herbeigeeilt und öffnet vorsichtshalber eine weitere Flasche für unser kleines Gelage.
Beim Dessert ( Espressosorbet mit Sesamtorrone ) hole ich meine Kinopläne heraus und stelle Enrico Bonni den Grundriss meines neuen Restaurants vor.
– Sie wollen hier ansässig werden? fragt er.
– Wenn Sie mir eine Baugenehmigung geben, vielleicht, antworte ich.
– Sie erhalten von mir alle Baugenehmigungen der Welt, flüstert er. Aber wollen Sie dieses Restaurant etwa allein betreiben?
– Natürlich nicht, sage ich. Ich kann nicht ausreichend gut kochen, deshalb werde ich mit einer Frau zusammenarbeiten, die sich bestens auskennt.
– Und wer ist es?
– Ich sage noch nichts, antworte ich.
– Gut, dann eben nicht, aber irgendwann müssen Sie das Geheimnis lüften.
– Wenn ich mein Amt antreten sollte.
– In Ordnung. Aber noch eins: Weiß Lucio von Ihrer Restaurantidee?
– Nein, weiß er nicht.
– Sie wird ihm ganz und gar nicht gefallen.
– Wissen Sie was, lieber Bonni?! Sie soll ihm auch nicht gefallen, sie soll ihm ganz
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