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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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interessante junge Frau, Sie können alle drei Fächer studieren. Für ein Studium sind Sie bestens gerüstet, und Sie sind den Gleichaltrigen um viele Jahre voraus. Aber das brauche ich Ihnen eigentlich gar nicht zu sagen, weil Sie es nämlich längst selbst wissen. Überhaupt wissen Sie vieles bereits
selbst. Sie sind keine Frau, der man noch viel über das Leben erzählen muss, Sie kennen sich fast überall bereits sehr gut aus. Aber Sie sind vielleicht etwas zu ernst, eben weil Sie sich auskennen und weil Sie das, was Ihre Frau Mutter »das Gehampel« nennt, zum großen Teil ebenfalls als »Gehampel« empfinden. »Gehampel« nervt und ist verlorene Zeit. Viele Menschen beschäftigen sich ihr ganzes Leben ausschließlich damit. Sie werden so etwas nicht tun, Sie werden sich mit dem Seltenen beschäftigen. Das ist Ihr Metier, das Seltene. Schon dass wir jetzt hier im Dunkel des Kastells miteinander sprechen, zeigt, wie zielstrebig und passioniert Sie sind. Bestimmt sind Sie eine leidenschaftliche Frau, im Lernen, im Denken, im Forschen. Wie es damit im Leben aussieht, darüber erlaube ich mir kein Urteil. Die Art, wie Sie vorgehen, gefällt mir jedenfalls sehr. Aber ich kann Ihnen jetzt noch keine Zusage geben. Ich muss mir das überlegen, und wenn ich Ihnen eine Absage erteile, dann liegt das nicht an Ihnen oder daran, dass ich Sie nicht für geeignet hielte, sondern an anderen Dingen, über die ich nicht reden möchte. Ich denke, Sie haben dafür Verständnis. Soweit. Das war’s. Ich werde Sie wieder anrufen und Ihnen dann meine Entscheidung mitteilen. Sind Sie damit einverstanden?

    Ich habe an einem Stück geredet, in Schulbuchmanier, ohne Stocken. Ich selbst finde meinen Text gar nicht so schlecht, jedenfalls habe ich vorläufig mein Bestes gegeben. Ich habe sie gelobt, wie es sich gehört, und ich habe nicht drumherum geredet, sondern klar und deutlich gesprochen. Ich bin sicher, dass ihr so etwas imponiert. Sie sagt aber nichts, sondern steht nur still von ihrem Stuhl auf. Sie bewegt sich nicht weiter, sie blickt zu Boden (was sie zuvor kein einziges Mal getan hat). Dann
sehe ich, dass sie ein klein wenig schwankt. Es ist nur eine Nuance und dauert nicht länger als ein Atemzug. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr, deshalb stehe ich auch auf. Wir stehen einander gegenüber, als sie sagt: – Ich danke Ihnen sehr. Noch nie hat mir jemand so etwas Schönes gesagt. Sie sind ein sehr feiner Mensch.

    Zum dritten Mal macht sie mich in dieser Nacht sprachlos. Ich bin ein sehr feiner Mensch? Das hat noch niemand zu mir gesagt. (Es macht mich auch verlegen, so etwas zu hören. Abstreiten kann und will ich es nicht, aber sollte ich dagegen nicht etwas sagen, denn es ist eindeutig zu hoch gegriffen? Oder hat sie vielleicht sogar recht?) Sie nimmt mir alles Nachdenken ab, indem sie einen Schritt auf mich zugeht und mich zum Abschied auf die rechte und linke Wange küsst. Zum ersten Mal lacht sie. Und sie sagt: – Sie haben mich sehr froh gemacht, wissen Sie das?
    – Das freut mich. Jetzt sind Sie endlich durch mit Ihrem Ernst, jetzt lachen Sie wieder. Das ist gut.
    – Melden Sie sich bald?
    – Wie viel Zeit geben Sie mir?
    – Eine Woche, ist das genug?
    – Ja, ist es. Ich melde mich. Aber was tun Sie jetzt noch, so spät am Abend? Lassen Sie mich raten! Sie fahren nach Hause und lesen noch ein paar Zeilen griechische Klassik?
    – Diesmal irren Sie sich.
    – Sie gehen noch ein wenig mit Ihrem Vater in Mandlica aus?
    – Das allerdings stimmt …
    – Dann stelle ich noch eine allerletzte Frage.
    – Bitte sehr.
    – Sie sehen sportlich und gut durchtrainiert aus. Ich habe aber nicht die geringste Ahnung, welchen Sport Sie betreiben.
    – Das können Sie auch nicht ahnen. Auf den Sport, den ich treibe, kommt kein Mensch.
    – Und?! Was ist es? Worauf kommt kein Mensch?
    – Ich spiele Beach-Volleyball, ich bin sogar sizilianische Meisterin in dieser Sportart.

    Ich nicke stumm. Dann begleite ich sie zum Tor des Kastells. Ich winke ihr nach, als sie den abschüssigen Weg hinunter in die Innenstadt geht, und ich sehe einen Menschen, aus dem ich gern noch etwas schlauer werden würde.

III
Der Abend, die Nächte
    La nostra ora/
Scatta inavvertibile, affilato raggio
Nel labirinto armonico
     
    Unsere Stunde/
Schlägt unbemerkt, gespitzter Strahl/
Im harmonischen Labyrinth

1
    N ACH EINER langen, scheinbar ewig währenden Hitzeperiode gibt es nun die ersten, schweren Gewitter. Sie dauern meist einen halben Tag und

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