Das Kind, Das Nicht Fragte
junge Frau als eine ideale Begleiterin auf Reisen vorstellen könnte. Sie wäre neugierig und klug, sie würde sich umschauen und sich nichts entgehen lassen, sie wäre auch hier hinter dem Seltenen her, und es würde einfach großen Spaß machen, mit ihr unterwegs zu sein. Bei Tisch wäre sie eine einfallsreiche Gesprächspartnerin, alles würde sie interessieren, einfach alles, und sie würde jedes erdenkliche Wissen gierig aufsaugen und sich sogar gefallen lassen, dass man ihr dieses Wissen präsentieren und sie durch die Ländereien des Denkens führen würde. Genau darin bestände ein zusätzlicher Reiz für einen älteren Mann: dieser jungen Frau so manches zeigen und dabei genießen zu dürfen, wie ein junger Mensch die großen Lebensthemen zum ersten Mal erkennt und begreift. ( Das erotische Moment der Lehre besteht genau darin. )
Ich bin ein etwas älterer Mann. Genauer gesagt, bin ich etwa zwanzig Jahre älter als sie. Sie kommt zu mir, weil es sie nach so etwas wie einer Lehre verlangt. Die Bedingungen stimmen also. Ich bin aber kein Sizilianer, und ich habe nicht vor, mit dieser jungen Frau irgendeine komplizierte Beziehung einzugehen. Ich möchte mit ihr überhaupt keine Beziehung eingehen, ich befinde mich nämlich gerade selbst am Anfang einer Beziehung, wie ich sie mir nicht schöner vorstellen könnte. Nein, eine weitere Beziehung kommt nicht in Frage. Ich sage mir das so deutlich, weil ich die Anziehung und das erotische
Moment durchaus spüre. Mein Gott, ich bin mit dieser sizilianischen Schönheit mitten in der Nacht allein in einem sizilianischen Kastell, wie sollte ich da das erotische Moment nicht in jeder Sekunde spüren?
Sie sagt ein paar Sätze und entschuldigt sich für die Verspätung. Sie flüstert nicht, sondern spricht so deutlich und klar, dass ich ihr Italienisch im Stillen fast als Schulbuch-Italienisch bezeichnen würde. (Die Bezeichnung rührt daher, dass sie ohne jedes Stocken und scheinbar ohne weiteres Nachdenken hyperkorrekte Sätze formuliert, die wie Sätze aus einem Lehrbuch erscheinen). Erst jetzt bemerke ich, dass sie fast genauso groß ist wie ich, ich deute auf die beiden Stühle, die ich zusammen mit einem Tisch in dem hinteren Teil des Innenhofs platziert habe, dann gehen wir zusammen dorthin. Sie sagt nichts weiter, sie lauscht, sie ist gespannt darauf, was ich als Erstes frage oder sage. Und ich frage und sage, was mir nach meinen ersten Eindrücken durch den Kopf geht:
– Sie haben vor, im Herbst mit dem Studium zu beginnen?
– Ja, aber woher wissen Sie das?
– Denken Sie bitte nicht darüber nach, woher ich dieses oder jenes weiß. Es sollte Sie nicht beeinflussen und erst recht nicht stören. Beantworten Sie einfach nur meine Fragen. An welches Studium denken Sie?
– An ein Studium der alten Sprachen Griechisch und Latein oder an ein Studium der Architektur.
– Sie haben in Griechisch und Latein Bestnoten?
– Ja, das habe ich.
– Wir könnten uns auch in Griechisch oder Latein unterhalten?
– Ja, könnten wir.
– Oh, wie schade, dass ich Griechisch und Latein nicht gut genug spreche, Sie haben mir da etwas Wunderbares voraus.
– Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, niemand spricht in dieser Gegend Griechisch oder Latein. Selbst meine Lehrer sprechen es nicht besonders gut.
– Und warum sprechen Sie es so gut?
– Das weiß ich selbst nicht genau. Griechisch und Latein sind meine Sprachen, manchmal denke ich, ich bin unter Griechen und Römern aufgewachsen.
– Sie haben also neben Sizilien noch eine zweite, vielleicht noch viel größere Heimat.
– Ja, die habe ich! Es ist sehr schön, dass Sie es so sagen.
– Das ist schön für Sie, weil viele Menschen in Ihrer Umgebung auch etwas anderes sagen, nicht wahr? Diese Menschen sagen, dass Griechisch und Latein tote Sprachen seien und dass es sich heutzutage nicht lohnen würde, solche toten Sprachen zu studieren. Ihr Vater zum Beispiel sagt das, und er sagt es, obwohl er zum Beispiel für die lateinischen Klassiker durchaus schwärmt.
– Mein Vater kann für vieles schwärmen, vielleicht ist das Schwärmen überhaupt seine stärkste Seite.
– Sie haben mit dem Schwärmen aber Probleme, nicht wahr? Sie schwärmen nicht, Sie tolerieren das Schwärmen, aber Sie selbst schwärmen nicht.
– Woher wissen Sie das?!
– Wenn Sie Gegenfragen stellen, kommt unsere Unterhaltung nicht voran, ich sagte Ihnen das schon. Also, es stimmt, Sie schwärmen nicht. Ihre Liebe zur griechischen
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