Das Kind, Das Nicht Fragte
und gar nicht gefallen! Und das hat sogar einen Grund, glauben Sie mir.
Enrico Bonni stockt und lächelt wieder, aber jetzt ist es ein beinahe schütteres Lächeln, ein Lächeln hinter dem Vorhang eines Gesichts, das sich kaum noch unter Kontrolle hat. Rasch einen starken Kaffee für meinen neuen Freund, denke ich, und für mich eine Antico toscano!
– Man wird aus Ihnen wirklich nicht schlau! sagt Bonni beim Kaffee.
– Warten Sie nur ab, Bürgermeister, antworte ich, bald wird Ihnen alles klar sein, strand-und sandklar, meeresklar!
19
I CH WARTE im Innenhof des Kastells auf Adriana Bonni, aber sie verspätet sich. Nach mehr als zwanzig Minuten will ich wieder gehen, als sich die nur angelehnte Tür des Kastells langsam öffnet und eine junge Frau erscheint, die sofort stehen bleibt. In der Umgebung der Tür ist es sehr dunkel, deshalb zögert sie, weiterzugehen. Ich gehe ihr ein paar Schritte entgegen, da erkennt sie meine Gestalt und kommt auf mich zu. Schon während sie näher kommt, glaube ich zu ahnen, wen ich vor mir habe. Das ist kein achtzehnjähriges Schulmädchen, das ist eine junge Frau, die zwar noch nicht ganz genau
weiß, was sie will, aber klar und entschieden denkt. Sie hat ein flächiges, charaktervolles Gesicht (das mich an Frauengestalten des Malers Botticelli erinnert), und sie hat lange, blonde, in der Nachtluft leicht wehende Haare. Sie trägt ein dunkelblaues Kleid, und am linken Arm glänzt ein goldener Armreif. Eine kleine Umhängetasche, ebenfalls links, sonst nichts.
Sie steht, denke ich, ganz am Anfang einer eigenen Geschichte, ja, sie sucht genau danach: nach den ersten, grundlegenden Themen einer eigenen Geschichte. Sie ist nicht das Mädchen, das mit Freundinnen nachmittags durch den Ort zieht und über die Jungs, die neusten Songs, die erfrischendsten Getränke oder die schärfste Mode spricht. Sie ist aber auch nicht die schulische Streberin, die ihre Zeit zu Hause verbringt, um zu lernen und den besten Notendurchschnitt von allen zu bekommen. Eine sehr gute Schülerin ist sie dennoch, aber das Lernen fällt ihr so leicht, dass sie dafür nicht lange braucht. Ich stelle mir vor, dass sie ein paar ausgefallene Hobbys ausübt, sie hat vielleicht professionell tanzen gelernt, oder sie treibt sonst einen raren, nicht sizilianischen Sport, etwas wie Badminton oder Beach-Volleyball ( Beach-Volleyball? Benjamin, ist das Dein Ernst? ).
Sie hat keinen Freund, und der ganze Komplex Sex und Freundschaft mit Jungen ist für sie derart kompliziert, dass sie lieber gleich die Finger davon lässt. Sie weiß nicht, wie sie mit den Jungs zurechtkommen soll, sie will nicht angebetet werden, und sie will niemanden so lieben, dass sie darüber die Selbstachtung verliert. Wenn
sie sich etwas wünschen dürfte, dann wäre es eine gute Freundschaft mit gelegentlichem Sex, aber der Freund sollte etwas älter als sie sein und am besten ein Student mit einer vernünftigen, aber nicht übertrieben großen Portion Intelligenz. Sie selbst hat davon so viel, dass es sie manchmal erschreckt, sie weiß nichts anzufangen damit, sie weiß aber auch, dass sie dieser großen Intelligenz etwas schuldet: eine eigene Geschichte, einen Lebensplan. Weil sie danach sucht, ist sie hier, sie möchte von mir einen Rat, das ist es. ( Bist Du ganz sicher? Ja, absolut. )
Wir geben uns die Hand, und sie lächelt nicht. Sie ist auch sonst keine Spur verlegen, sondern wirkt eher wie, sagen wir, eine junge Architektin, die mit mir zu einem Besichtigungstermin verabredet ist. Wenn ich ein Mann in ihrem Alter wäre, würde ich mich wohl platonisch in sie verlieben. Sie wäre die schönste, junge Frau der Region, aber ich würde von vornherein wissen, dass jede Werbung an ihr abprallen würde. Wäre ich ein Mann um die dreißig, würde ich nach etwas sehr Seltenem ( Karfreitagsliturgien in Trapani mit der berühmten Trauermusik sizilianischer Blaskapellen? Das Konzert einer sizilianischen Sängerin in der Nachfolge Rosa Balistreris in einem der altgriechischen Tempel von Agrigent? ) suchen und sie dazu einladen. Sie würde die Einladung annehmen, aber nicht meinetwegen, sondern weil sie sich das Seltene nicht entgehen lassen möchte.
Sie lebt nämlich vom Seltenen , das ist ihre große Chance und ihr großes Problem. Als ein sizilianischer Mann, der
viel älter als sie wäre, bliebe ich zu ihr auf Distanz, obwohl mich ihre Art und ihr ganzes Wesen stark anziehen würden. Die Anziehung käme dann daher, dass man sich diese
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