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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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sind so heftig, dass man glaubt, nie zuvor ein Gewitter erlebt zu haben. Kurz bevor sie ausbrechen, regt sich der Wind, pfeift durch die Gassen und wirbelt alles vor sich her, was nicht zwei-oder dreimal befestigt oder angebunden ist. Die Läden der Geschäfte werden rasch geschlossen, die Auslagen draußen im Freien hastig in das Geschäft geräumt, alles duckt sich ins Dunkle weg und verharrt dort für die Zeit des Sturms.

    Der trifft den Ort von allen Seiten und schlägt zu. Es ist ein trockener, rasender, kleiner Orkan, der aus lauter einzelnen, sich verirrenden Böen besteht, ein lauwarmer Brand, der Bäume entwurzeln, Dächer abdecken und den Müll der Straßen an den Rändern der größeren Plätze auftürmen kann. Unter lautem Krachen bricht ein Kiosk auseinander, ein Wagen stürzt eine abschüssige Straße zum Meer hinab, oder im Hafen zerschlägt es ein Boot an der Kaimauer. Eine Stunde später kommen dann die schrillen Blitze und die Explosionen des dumpfen Donners, schließlich setzt der Regen ein. Rasch anschwellende
Sturzbäche, die flink wie eilige Katzen um jede Ecke schießen und so hastig die vielen Treppen zum Meer hinabfallen, als wollten sie den Ort mit hinabreißen.

    Nach den ersten Gewittern wird es allmählich sogar etwas herbstlich. Die Temperaturen sinken um zehn, fünfzehn Grad, und manchmal hocken oben, am früher noch schwerblauen Himmel, graue, aufgedunsene Wolken, so missmutig und gelangweilt, dass man nicht hinschauen mag. Im Ort breitet sich eine verhaltene Trauer um den verschwundenen Sommer aus, ja sogar eine Sehnsucht nach Hitze (die vor einigen Tagen noch heftig beklagt wurde). Der Herbst bedeutet nicht nur unsicheres, sich laufend veränderndes Wetter, sondern auch Arbeit, viel Arbeit. In den Gärten und auf den Feldern wird jetzt geerntet, und in den hoch an den Steilhängen neben der Stadt gelegenen Weinbergen stehen kleine Menschengruppen und arbeiten sich von einem Weinstock zum anderen vor.

    Meine Arbeit kommt ebenfalls sehr gut voran. Ich habe viele Gespräche geführt und bin dabei, die Tonaufnahmen durchzuhören und mir zu ihnen Notizen zu machen. Jedes Gespräch höre ich mindestens fünfmal an, ich achte auf jeden Verweis und jede Kleinigkeit und erstelle kurze Protokolle über die zur Sprache gekommenen Themen. So entstehen Vorfassungen des späteren Buches, für das ich wohl noch viel Zeit brauchen werde, denn noch nie habe ich so komplex und ideenreich gearbeitet. Im Vordergrund meiner jetzigen Untersuchungen
stehen mehr als jemals zuvor die Biographien der einzelnen Menschen, während die großen Themen nicht das Hauptgewicht bilden. Aus den Biographien heraus soll also das Buch entstehen und sollen die einzelnen Themen dann weiter verfolgt werden. Dieser Zugang zu meinem Stoff wird sich in der Endfassung spiegeln. In ihr werde ich immer die Geschichten einzelner Menschen erzählen, und schließlich auch die größeren Themen in erzählender Form behandeln. (Ich nähere mich den erzählerischen Darstellungsformen der ethnologischen Meister, endlich werde auch ich zum Erzähler .)

    Immer wieder verblüfft mich, wie gut die Einwohner von Mandlica das Erzählen beherrschen. Sie können es, als wären sie damit geboren worden, und sie haben nicht die geringste Mühe, verzweigte Sachverhalte konkret und anschaulich darzustellen. Selbst ältere Männer, die im Ort als schweigsam und etwas verstockt gelten, erzählen nach einigen Auflockerungsübungen mit großer Bereitschaft und als wären sie froh, endlich einmal länger sprechen zu dürfen. Genau hierin besteht die Macht meiner Fragen. Sie entlocken den Menschen Details und Geschichten, die sie zuvor nicht loswurden und die sie seit langem nur für sich behielten. Ich wittere solche Details und Geschichten relativ rasch, und wenn ich auf solche Details und Geschichten ( Nebenfiguren, übersehene Verwandte, Sehnsüchte nach bestimmten Erlebniszuständen ) gestoßen bin, versuche ich, zu den Erzählzentren vorzudringen.

    Bei den Erzählzentren handelt es sich um Urszenen oder Urkonstellationen einer Biographie. Trifft man auf ein derartiges Zentrum, wird der Erzähler unruhig, beredsamer (oder aber plötzlich schweigsamer) als sonst, bricht häufig ab, setzt wieder neu an und zeigt überhaupt eine gewisse Angespanntheit oder Übererregtheit. (Sie rührt daher, dass er noch keine endgültige Fassung seiner Erzählung besitzt. Das Erzählte befindet sich vielmehr noch in einem kruden Rohzustand.) So etwas kann bei der

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