Das Kind, Das Nicht Fragte
Erwähnung einfachster und scheinbar unauffälliger, ja sogar nichtiger Details geschehen, denn schon ein einziger, winziger Pfirsich, den ein älterer Bruder einmal langsam durchschnitten und geteilt hat, ohne ihn dann wirklich mit dem jüngeren Bruder zu teilen, kann ein Leben vergiftendes Zeichen sein, das sich tief eingebrannt hat. Eingebrannte Details sind Zeichen, die man sich ein Leben lang merkt. In Momenten von Traurigkeit treten sie geradezu inflationär auf und bilden lauter kleine Ketten aus vielen Vorwürfen oder Abneigungen (Typische Redensarten sind dann: Schon immer hat er/sie … – Seit ich mich erinnern kann, war dies/das … – etc.).
Natürlich habe ich mich oft gefragt, wodurch das besondere Erzählvermögen der Mandlicaner Bevölkerung entstanden sein mag. Einige einfache Beobachtungen haben mir geholfen, diese schwierige Frage zu beantworten. (Und ich vermute nach einer längeren Unterhaltung mit Paula über genau dieses Thema, dass meine Antworten nicht nur auf Mandlica, sondern auf große Teile Siziliens, ja vielleicht sogar Italiens zutreffen.) Ich habe nämlich beobachtet, dass es in vielen Familien meist immer
eine Person gibt, die wie ein Erzählmotor wirkt. Oft steht sie als Erste auf und beginnt dann gleich, die anderen Familienmitglieder, sobald sie auf sind, in ihr fortlaufendes Sprechen einzubeziehen. Schon in den frühsten Morgenstunden geht das los: Der Erzählmotor wird angeworfen und schnurrt dann ohne größere Pausen, bis auch die ruhigeren Familienmitglieder in das Gespräch einsteigen und zu sprechen beginnen.
Dieses frühmorgendliche Sprechen taut die nächtliche Steifheit und Verlegenheit (die in eher nördlichen Ländern wie Deutschland den ganzen Tag mehr oder weniger anhält) rasch auf. Sie wirkt wie ein Morgentraining in Sprache und Eloquenz und ruft allen Familienmitgliedern in Erinnerung, dass der Mensch ein sprechendes und sich darstellendes Wesen ist. Die Hilfsmittel dieses Trainings aber bestehen aus einer jahrtausendealten Rhetorik, und das meint: Es werden bestimmte Stilmittel (wie etwa die Wiederholung, die Aneinanderreihung, die Umdrehung, der Kontrast etc. ) eingesetzt, die gute Sprecher, ohne es deutlich zu wissen, von Natur aus und von den frühsten Kinderjahren an beherrschen. Darüber hinaus haben sie seit diesen ersten Jahren ein Reservoir an bestimmten Vokabeln und Begriffen gesammelt, das sie immer neu miteinander kombinieren und Stück für Stück erweitern. So entsteht ein fester Vokabelvorrat, auf den sich ein guter Sprecher verlassen kann. (Einen guten Sprecher zeichnet aus, dass er diesen Vorrat fast täglich abruft, er spricht über die verschiedensten Themen an immer neuen Orten auf meist dieselbe, höchstens leicht variierte Art.)
So muss man sich Mandlica in der Frühe (etwa ab sechs Uhr und damit seit Sonnenaufgang) als einen Ort vorstellen, der zum Sprechen erwacht. In den Wohnhäusern und in den Geschäften wird der Erzählmotor angeworfen, werden Erzählkerzen entzündet und erste Erzählpirouetten gedreht. Das Sprechen schwillt an und beginnt dann zu rauschen, und die verschiedenen Sprecher tauchen langsam ein in die Sprech-und Erzählströme. Dabei kommt es eben nicht darauf an, von sich selbst oder überhaupt von etwas Neuem, höchst Mitteilenswertem, zu erzählen. Es wird gesprochen, um sich des Sprechens zu vergewissern, um im Sprechen warm zu werden und dieses Warmwerden auf andere Sprecher zu übertragen: Ah, da liegt ja meine Haarspange, da habe ich sie also gestern hingelegt! – Was Du nicht sagst, ich dachte, Du hast sie vorgestern verloren? – Vorgestern? Nein, gestern erst habe ich zu Dir gesagt, ich könnte sie gerade verloren haben, beim Fahrradfahren. Aber ich wusste nicht genau, wo, ich hatte überhaupt keine Ahnung. – Richtig, Du hattest überhaupt keine Ahnung, und jetzt fliegt Dir das blöde Ding einfach ruckzuck zurück in die Hände. Du hast Glück. – Ja, heute habe ich Glück, ruckzuck fliegt mir das Ding in die Hände. – Ruckzuck. – Ja, ruckzuck. So sollte es immer sein mit Dingen, die man vermisst: Einfach ruckzuck. – Ja, genau. Neulich habe ich meinen Lippenstift gesucht, stundenlang …
So ein Reden und Gegenreden ist durch und durch rhetorisch. Der Inhalt ist zunächst nichtig, viel wichtiger ist, dass das gegenseitige Reden sich langsam verstärkt und anschwillt. Dabei ist auch von Bedeutung, dass sich die Gesprächspartner nicht laufend widersprechen (wie
das in eher nördlichen Ländern
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