Das Kind, Das Nicht Fragte
beinahe zu einer fatalen, letztlich gesprächshemmenden Mode geworden ist), sondern sich eher in der Rede bestärken. ( Widerspruch wird zumeist vorsichtig, als zögernde Frage, als Annäherung oder als Nachfragen artikuliert, während das Bestärken und Zusprechen eine unterstützende, anheizende und aufhellende Funktion hat.)
Gutes miteinander Reden und Sprechen hat dadurch etwas Helles, Klingendes, Freundliches, Verlockendes, manchmal sogar dezidiert Albernes. Es hört sich an wie ein immer flotter, leichter und brillanter werdendes Duett, mit kurzen Rezitativen beiderseits. Die Sprechmusik trällert, windet sich in die Höhe, ruht sich aus in den Tiefen, legt wieder los, holt Luft, wird hektisch und nervös, fast bis zur Besinnungslosigkeit. Diese Hektik und Raschheit lässt sie immer weiter ausholen, als müsste sie die halbe Welt neu erzählen. Bald fallen von allen Seiten schwere Themenbrocken ins Reden, werden unwirsch beiseite gestoßen, rühren sich von selbst wieder, kollern umher und werden schließlich doch noch in Angriff genommen ( der Tod eines nahen Menschen, ein Verkehrsunglück, die Taufe der Nichte … – also sowohl negativ wie positiv besetzte, schwerer wiegende Ereignisse).
Irgendwann muss dann aber aus verständlichen, zeitlichen Gründen Schluss gemacht werden. Die Sprecher müssen raus aus ihren Häusern und sich unter andere Sprecher mischen, die ebenfalls am frühen Morgen das große Training des Sprechreigens durchlaufen haben. Günstig ist es, wenn bereits die Straße, die direkt vor
dem eigenen Haus liegt, solche anderen Sprecher zum erneuten Gespräch anbietet. Das Sprechen und Reden verlagert sich dann vom Haus hinaus auf die Straße – und wird dort den ganzen Tag über mit neuen Sprechern und in neuen Konstellationen weitergeführt. Der ganze Tag – ein einziges Sprechen mit immer denselben Versatzstücken an immer neuen Orten! (Genau dafür wurden in Italien die Bar, der Tabacchi-Laden, das Lebensmittelgeschäft etc. erfunden, und genau deshalb gibt es in Italien in fast allen Orten und Städten noch immer derart viele kleinere Läden. Es sind Sprechzentren , von denen man sich nicht trennen mag.)
So besteht jeder normale Tag für einen Mandlicaner aus vielen kurzen Duetten und Gesprächen, die sich manchmal auch zu größeren Runden (einem Trio, einem Quartett ) hin erweitern. Die Oper ist in Italien (und nirgends sonst) entstanden, weil sie die Umsetzung solcher Gesprächsformen ins Musikalische ist. Als Kunstform führt sie vor, dass Leben aus Sprechen und Sprechen aus Musik besteht und dass alles Leben nur existiert, insofern es ausgesprochen und besungen wurde. (Selbst im Sterben wird noch gesungen, selbst der tödlich Getroffene bäumt sich noch ein letztes Mal auf, um zu verkünden, dass er gerade tödlich getroffen wurde.)
Jeder Tag führt also die Bewohner Mandlicas zu immer neuen Sprechgesängen zusammen, jeder Tag ist ein Meister der Komposition, ja ein Komponist . Und manchmal, in besonders schönen Momenten, bilden diese Menschen dann sogar einen Chor. Wie etwa nach schweren
Gewittern, wenn die Frauen Mandlicas, ohne sich dazu verabredet zu haben, in den Dom strömen, um dort Marienlieder zu singen. Höre ich sie von weitem, laufe ich jedes Mal auf den Domplatz und zeichne ihre Gesänge auf. (Eine natürliche Scheu verbietet mir, den Dom als Mann zu betreten, die Frauen von Mandlica wollen unter sich bleiben – das spüre ich und habe davor auch Respekt. Es gibt aber kaum Schöneres, als die alten Marienlieder leicht gedämpft auf dem Domplatz zu hören und dabei zu erleben, wie der Regen abzieht, die Dinge wieder Farbe und Geruch annehmen, die Erde noch dampft und die Pfützen im langsam wieder aufstrahlenden Sonnenlicht blinken. Der Chor der Sängerinnen dankt Maria für die Rückkehr des Lichts – genau diesen Eindruck hinterlassen solche Szenen. Großer Film ist auch das, aber auch in diesem Fall interessiert sich wahrscheinlich kein Mensch für mein Drehbuch.)
Und ich?! Wie steht es inzwischen mit meinem Erzählen? Sagen wir es so: Noch nie bin ich an einem Ort derart leicht und effektiv mit anderen Menschen ins Gespräch gekommen. Dadurch ist hier in Mandlica alles anders als sonst. Ich verstecke mich nicht den halben Tag in den Zimmern meiner Pension, und ich sitze längst nicht mehr allein an einem Tisch, um in der Gesellschaft von ein paar Zeitungen oder Büchern einsam zu Abend zu essen. Kaum habe ich die Pension verlassen, strömen Menschen
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