Das Kind, Das Nicht Fragte
bin und meine Forschungen Fortschritte machen, mehr möchte ich nicht sagen. Die Kürze meiner Telefonate hat aber auch damit zu tun, dass ich mir eine Rückkehr nach Deutschland immer schwerer vorstellen kann. Wenn ich die Augen schließe und an Deutschland denke, sehe ich ein Land der Quiz-und Kochsendungen, der überdrehten, wichtigtuerisch vorgetragenen Wetterberichte und der sich täglich ins Kleinste verlaufenden politischen und ökonomischen Kommentare, die ein immerwährendes Unwohlsein verbreiten und dieses Unwohlsein kultivieren. Ich will diese Welt nicht mehr sehen, und ich will auch nicht mehr tagaus, tagein in meinen Kölner Zimmern sitzen,
um mich auf universitäre Seminare mit Erstsemestern vorzubereiten.
Am liebsten würde ich den größten Teil des Jahres hier im Süden Italiens verbringen. Ich würde die Sonne spüren und damit die Leichtigkeit meines Körpers, ich würde überhaupt ein freundlicheres, geselligeres Leben führen. Ich hätte nicht das Gefühl einer niemals aufhörenden Bedrückung, sondern eine Empfindung von lebenswertem Elan. Schon wenn ich morgens die Pension verlasse, ist dieser Elan da, er hat damit zu tun, dass ich in das Leben hier eintauche, ich wittere die Atmosphären der Gassen und Straßen, die Düfte und Gerüche fliegen auf mich zu, und ich betrete eine Bar, in der die Menschen das Leben nicht laufend beklagen, sondern munter, ironisch oder sarkastisch von ihm erzählen. Ob ich noch weiter in Deutschland leben werde, hängt auch von der weiteren Entwicklung meiner Liebesgeschichte ab. Sollte ich mit Paula zusammenbleiben, würde ich den größten Teil des Jahres hier in Mandlica bleiben wollen. Ich kann mir das gut vorstellen, und ich möchte nichts lieber. Ich warte aber noch, dass mit mir etwas geschieht, ja, verdammt, ich warte darauf, dass sich mein Herz endlich öffnet.
2
D IE GESCHICHTE mit der jungen Adriana Bonni hat nun deutlichere Konturen angenommen. Ihr Vater hat mich mit besonderem Nachdruck gebeten, ihr ein Praktikum bei mir zu ermöglichen, und Alberto hat ebenfalls zugeraten, weil die junge Bonni ein außergewöhnliches Talent für fast alles besitze, das sie irgendwie interessiere. Deshalb könne sie mir nur von Nutzen sein. Paula schließlich meint ebenfalls, dass Adriana zu einer großen Hilfe werden könnte, rät mir aber unbedingt, sie auf Distanz zu halten.
– Sie wird immer näher an Dich heranrücken, glaub mir. Darauf solltest Du achten. Du solltest nicht zu viel allein mit ihr sein, am besten gar nicht. Sie ist jemand, der den ganzen Lebenssaft will, nicht nur die Lehre und das Wissen, sondern auch den, der ihn hortet und besitzt. Sie hatte noch nie einen Freund, weißt Du das?, und sie ist genau der Typ, der gleichaltrige junge Männer nicht ausstehen kann. Sie sucht den welt-und lebenserfahrenen Meister, Du wirst das zu spüren bekommen.
Ich treffe mich mit Adriana Bonni in Lucios Restaurant und lade sie zu einem Arbeitsessen ein. Ich habe viele Papiere und eine Unmenge von Arbeit dabei, und ich rede die ganze Zeit über nichts anderes. Bei der Bestellung der Mahlzeit gebe ich mich kurz und präzise und insgesamt so, als interessierte ich mich nicht für das Essen. Lucio bemerkt das mit einem gewissen Staunen, er traut sich schließlich nicht mehr an unseren Tisch, sondern schickt seine Mannschaft, die in deutlicher Distanz
um uns herumschleicht und zwischendurch nur an den Tisch kommt , um das Wasser nachzufüllen. ( Keinen Aperitif! Keinen Wein! Überhaupt keinen Alkohol! – das hatte ich mir vorgenommen, und ich halte mich daran.)
Adriana trägt diesmal kein Kleid, sondern eine eng anliegende strahlend weiße Hose und eine weit geöffnete Bluse mit blauweißen Streifen, die mich an das blauweiß gestreifte Hemd ihres Vaters erinnern. Die Locken in ihrem blonden Haar sind verschwunden, sie hat jetzt eine strenge Frisur, mit der sie deutlich betont, dass sie vorerst die Rolle des Arbeitstiers zu spielen gewillt ist. Natürlich hat sie einen Laptop dabei und macht mit ihren extrem schnellen Fingern laufend Notizen. Ihre Finger sind lang und gut geformt, sie könnte auch einmal Klavier gespielt haben, ich glaube das aber nicht, Klavierspielen käme ihr zu altmodisch vor. Sie fragt kaum, sondern saugt alles, was ich sage, mit enormer Geschwindigkeit auf, anscheinend versteht sie beinahe alles. Wenn sie nachfragt, ist die Frage kurz und richtet sich meist auf die Ergänzung oder Präzisierung eines Details. Sie bestellt keine
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