Das Kind, Das Nicht Fragte
auf mich zu, grüßen mich, beginnen ein zumindest kurzes Gespräch mit mir, erzählen mir etwas. Das alles ist wohltuend, erleichternd und angenehm, und ich habe mich noch in keinem Moment über diese
Veränderungen gegenüber meinem bisherigen, extrem scheuen Leben beklagt. Im Grunde könnte es nicht besser und schöner sein: Die Bewohner von Mandlica haben mich eingemeindet, und ich habe eine bestimmte, von ihnen anerkannte Aufgabe übernommen, um ihr Sprechen, Denken und Leben zu dokumentieren.
Andererseits aber bemerke ich (fast schmerzhaft) weiterhin, dass ich in all diesen Situationen, die mein Leben jetzt so bereichern, noch immer der Zuhörer bin. Die Mandlicaner sprechen mit mir, aber sie tun es aus eigenem und meistens konkretem Verlangen heraus. Keiner von ihnen befragt mich, keiner will wissen, wie es mir geht, was ich denke und woraus mein Leben besteht . Ich höre genau zu, mache ein paar Anmerkungen, halte das Gespräch in Gang, kommentiere eine Neuigkeit oder eine Frage, stelle mich für jedes Thema als Gesprächspartner zur Verfügung. (Alles ist ja von Interesse, ja, genau, ein Ethnologe hat das Glück, dass eigentlich alles, was ein Befragter sagt, von Interesse ist.) Ich selbst aber bringe mich in all diesen Unterhaltungen nicht ein. Und so bin ich weiter der fleißige Diener der Forschung, der Mann aus Deutschland, der das Fragen so unglaublich gut beherrscht und der von den Menschen Dinge weiß, die sie selbst oft nicht einmal mehr von sich wissen.
Sollte es aber nicht genau so sein? Besteht eines der stillschweigend eingehaltenen wissenschaftlichen Gebote nicht genau darin, dass der Ethnologe sein eigenes Leben aus dem Spiel der Befragungen heraus hält? Natürlich, so soll es sein. Doch es hat noch nie einen Ethnologen von
einigem Können gegeben, der sich an eine solche Regel gebunden gefühlt hätte. Im Gegenteil, große Ethnologen wurden vor allem deshalb groß und bedeutend, weil ihren Texten die Beziehung zu ihren Themen anzumerken ist. Letztlich waren es Menschen, die ihre Zurückhaltung und Schüchternheit im Umgang mit der Fremde zunehmend verloren. Genau deshalb gingen sie ja in die Fremde: Um dort die sie störenden Eigenschaften ihrer früheren Identität gegen eine neue, von der Fremde begründete und geformte Identität einzutauschen. In der Fremde verwandelten sie sich, blühten auf und spürten die positiven Auswirkungen ihrer Forschungen am eigenen Leib und an der eigenen Seele.
Und?! Spüre ich diese Auswirkungen etwa nicht?! Ich spüre sie natürlich im Umgang mit Paula. Noch nie war ich nach dem kindlichen Leben mit den geliebten Eltern und dem jugendlichen Leben mit Gottes Priestern und Beichtvätern mit einem Menschen zusammen, der mir derart vertraut war und mit dem ich mich so leicht und mühelos unterhalten konnte. Ich denke inzwischen, Paula hat auch den ethnologischen Blick. Sie beobachtet die Menschen und ihr Leben ungeheuer genau, und sie kommt dabei zu Erkenntnissen, die mich oft erstaunen. Das alles rührt daher, dass sie in einer gehörigen Distanz zu den anderen lebt. Diese Distanz macht sie aber nicht unfreundlich, ironisch oder verbittert, sondern verleiht ihr eine stets präsente, wache Höflichkeit. Höflich und aufmerksam begegnet sie ihrer Umgebung, merkt sich viele Details, fragt nach, zeigt sich offen und interessiert und übertreibt dieses Interesse doch um keine Minute.
Ich bewundere, dass sie genau weiß, wann es so weit ist, sich von einem Gesprächspartner zu trennen, und ich sehe, wie gekonnt sie so etwas macht, ohne dass es der andere bemerkt oder beleidigt ist. Paula ist ein Souverän des Gesprächs , kein Gespräch entgleitet ihr, und in keinem verliert sie den Überblick oder die Kontrolle.
So aber ist es auch im Umgang mit mir. Ich bemerke, dass sie mich immer besser versteht, immer mehr von mir weiß und mich in jedem Gespräch genauer durchdringt. Das alles ist keineswegs unangenehm oder findet allzu direkt statt, und es ist erst recht in keinem Moment aufdringlich oder peinlich. Denn immerzu spüre ich ja, was dahintersteckt und was Paulas Interesse am Leben hält: Es ist ihre Liebe zu mir, Paula glaubt wahrhaftig, jenen Menschen gefunden zu haben, den sie über alles liebt. Deshalb beschäftigt sie sich so sehr mit mir, und deshalb weiht sie mich Tag für Tag mehr in ihr Leben ein. Nicht, indem sie pausenlos darüber spricht, sondern einfach dadurch, dass sie mich an diesem Leben teilnehmen lässt. Wir fahren für ein paar Stunden
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