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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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in einen Nachbarort und wandern dort auf einen einsam gelegenen Felsen über der Küste. Wir treffen uns auf ihrem Landgut und kochen einen ganzen Abend eine einzige Speise. Wir hören auf unseren Fahrten ihre Musik, und sie erzählt ununterbrochen davon, wann sie genau diese Musik zum ersten Mal gehört hat und warum diese Musik sie derart fasziniert. Wir gehen ihre Übersetzungen gemeinsam durch und sprechen über die Details, indem wir uns lauter Übersetzungsvarianten überlegen.

    Das Leben mit Paula ist also ein Erzählstrom eigener, lebendiger und heftiger Art, im Grunde ist es ein erotisches Sprechen , das unsere Vereinigungen vorbereitet oder sogar begleitet. Ich kann nicht sagen, dass ich auch in diesem Erzählstrom bloß der passive Anreger oder Zuhörer wäre, nein, das bin ich nicht. Wir teilen uns unsere Themen, wir bestücken sie, und die Freude, die wir beide täglich empfinden, rührt daher, dass unser Reden großzügig von Thema zu Thema wandert, etwas Neues an einem Thema erkennt, es liegen lässt und dieses Thema Tage später wieder aufnimmt. Wir besprechen unseren eigenen Kosmos, wir stecken ihn ab – so könnte man sagen.

    Und doch weiß ich und bemerke es auch jeden Tag, dass ich trotz all meines Sprechens und Redens im Grunde noch immer an den entscheidenden Stellen und in den entscheidenden Momenten schweige. Ich halte nicht inne und erzähle von mir, ich hüte mich sogar davor, das zu tun. Vertraue ich Paula etwa nicht oder warum gelingt es mir auch ihr gegenüber nicht, meine Hemmungen zu besiegen? Die Antwort ist: Ich weiß es nicht . Ich spüre nur, dass es einfach nicht geht. Ich bemühe mich, ich kämpfe gegen das Schweigen an, aber ich überwinde es nicht. Die Erzählungen von meinem Leben scheinen so tief in einem Dunkel verborgen zu sein, dass ich längst keinen Zugang mehr zu diesen Erzählungen habe. Und ich weiß nicht einmal, womit ich beginnen sollte, ich habe keine Idee, sondern nur dieses Unbehagen und das starke Verlangen, in dieses Dunkel vorzudringen.

    Der große Fortschritt gegenüber meinem bisherigen Leben besteht aber darin, dass Paula von alldem etwas zu ahnen scheint. Sie spricht mich nicht darauf an, sie erkundigt sich nicht nach Details aus meinem Leben, sie weiß wohl nicht einmal, dass ich vier Brüder habe und noch immer in meinem alten Elternhaus unter dem Dach lebe. Aber ich glaube zu bemerken, dass sie die Eindrücke, die sie von mir gewinnt, sammelt, kombiniert und die richtigen Schlüsse daraus zieht. Manchmal gibt es ein kurzes Stocken in einem Gespräch, dann scheint sie etwas aufgeschnappt zu haben, über das sie kurz nachdenkt. Manchmal gibt es aber auch Gesten von starker Intensität, die mir in überwältigender Art zeigen, wie sie sich noch zurückhält, mich zu befragen. Sie legt einen Arm um meinen Hals und zieht meinen Kopf langsam und lachend zu sich heran. Sie küsst mich auf die Stirn und schaut, wie die Feuchtigkeit des Kusses allmählich verfliegt. Sie streicht mir leicht nachdenklich mit einer Hand über eine Wange, als überprüfte sie eine bestimmte Partie des Gesichtes für ein Porträt.

    Sieht sie in diesen ungemein schönen und wahren Momenten in mir das Kind? Und ahnt sie, dass dieses Kind einmal nicht fragen konnte und deshalb nie von sich erzählte?

    Ich gebe nicht auf, natürlich nicht. Ich denke, ich bin auf einem guten Weg. Irgendwann könnte der Durchbruch gelingen, das wäre dann wie eine Offenbarung. Aber ich bin keineswegs sicher, ob so etwas jemals geschehen wird. Von diesem Gelingen oder Misslingen hängt unsere
Liebe ab. Denn ohne ein Gelingen wird diese Liebe nicht für lange Zeiten bestehen. Auch das weiß ich, und wenn ich daran denke, weiß ich nicht weiter. Ich setze mich ins Arbeitszimmer meiner Pension und höre die Marienlieder der Frauen von Mandlica, die nach schweren Gewittern gesungen werden. Ich höre sie genau, ich folge jedem Klang, ich bin der klangliche Leib und das Herz, das sich öffnet (Von wem ist dieser Vers eigentlich? Ich kann ihn in den Gedichten des Nobelpreisträgers nicht finden, und auch in einer großen Sammlung antiker Lyrik taucht er nicht auf.).

    Was nun aber Deutschland betrifft, so habe ich die Kontakte dorthin beinahe vollständig abgebrochen. Ich habe meine Brüder eindringlich gebeten, mich nicht mehr laufend anzurufen, und ich selbst rufe einen von ihnen höchstens einmal pro Woche an. Unsere Gespräche sind kurz und berühren keine wichtigen Themen. Ich melde, dass ich am Leben

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