Das Kind, Das Nicht Fragte
Gäste des Restaurants Alla Sophia nach draußen, und schließlich sitze ich nur noch alleine da. Als Lucio zur Tür geht und sie von innen abschließt, sage ich:
– Einen Moment, Lucio! Lass noch offen. Ich werde auch gehen.
Lucio aber schließt trotz dieses Zurufs dennoch ab und kommt dann an meinen Tisch. Er setzt sich zu mir und sagt:
– Signor Merz, in letzter Zeit ist sehr viel passiert, und wir beide haben noch nie darüber gesprochen. Ich habe das große Bedürfnis, genau das zu tun. Wenn Sie mir jetzt etwas Zeit schenkten, wäre ich froh. Haben Sie Zeit? Können wir sprechen? Sein Anliegen überrascht mich nicht, ich kann ihn gut verstehen, aber ich überlege kurz, ob jetzt der richtige Zeitpunkt für ein solches Gespräch ist. Dann antworte ich:
– In Ordnung, Lucio, ich verstehe, was Sie meinen. Reden wir miteinander!
Er lächelt kurz und so unnachahmlich fein und zurückhaltend, als säße er einer Frau gegenüber, die er gleich in seinen Harem führen wird. Dort spielt bereits die Musik, und der alte Sultan hat Schlaftabletten bekommen und wird nichts merken. (Wie zum Teufel komme ich auf so was? Wieso geht mir genau das durch den Kopf?) Ich ahne, dass er eine gute Flasche auffahren wird. Es ist später Mittag und zu früh, so etwas zu trinken, aber ich sollte nicht unhöflich sein und eine gute Flasche nicht ablehnen. Er sagt aber nichts, sondern steht auf, geht kurz in die Küche und kommt mit einer Flasche Champagner ( Ruinart Rosé ) und zwei Gläsern zurück. Er öffnet sie leichthändig und rasch, holt noch einen Kübel mit Eis, schenkt ein und versenkt die Flasche dann in dem bereits leicht beschlagenen Gefäß. Wir stoßen an, und ich warte darauf, dass er das Gespräch eröffnet. Ich bin gespannt, womit er beginnt, ich liege auf der Lauer.
Als er dann aber zu reden beginnt, bemerke ich, dass er den Einstieg verpasst. Er redet zunächst von Mandlica, seinen Dolci, von der Besonderheit dieses Ortes, dann überblendet er zu seinen Jugendjahren und dem Haus, in dem er aufgewachsen sei. Mindestens zehn Minuten treibt seine Rede lose umher, und ich habe den unangenehmen
Verdacht, dass er nicht weiß, was er mit mir anfangen soll. Und was sollte er mit mir anfangen?! Er sollte mich etwas fragen, und, ganz konkret: Er sollte mit mir über Maria und Paula sprechen. (Weiß er überhaupt, dass Paula und ich ein Paar sind?) Ist ihm ein Gespräch darüber aber zu peinlich oder möchte er es auf keinen Fall, dann könnten wir es auch bei einem Gespräch über Maria belassen. Paula und/oder Maria! Das wären die Themen, aber Lucio fabuliert über sizilianische Süßspeisen.
Nachdem ich ihm zehn Minuten geschenkt habe, unterbreche ich ihn und übernehme die Führung in unserem Gespräch:
– Lucio, wollten Sie mit mir wirklich über Mandlica sprechen? Oder gibt es keine interessanteren Themen?
– Nein, Signor Merz, über Mandlica wollte ich mit Ihnen keineswegs sprechen. Ich hatte vor, mit Ihnen über Maria und Paula zu sprechen.
– Und warum tun Sie das nicht?
– Darf ich ehrlich sein, Signor Merz?
– Bitte, Lucio.
– Ich habe vor Ihnen großen Respekt, und ich weiß nicht, wie ich mit Ihnen sprechen soll. Sie sind kein Sizilianer, Sie sind Deutscher, und das heißt, Sie sehen viele Sachen anders als ich.
– Nun gut, aber das ist doch interessant: Herauszubekommen, was ich anders sehe und warum ich bestimmte Sachen anders sehe.
– Ja, gewiss, es ist trotzdem nicht leicht, Ihnen zu erklären, was mich beschäftigt.
– Nein, leicht ist das nicht. Wäre es Ihnen angenehmer, wenn
ich Sie etwas fragen würde, anstatt dass Sie sich jetzt lange erklären?
– Das wäre mir sehr recht, Signor Merz.
– Gut, dann versuchen wir es einmal anders. Wenn ich etwas frage, das Ihnen unangenehm ist, oder wenn Sie generell das Gefühl haben, dass unsere Unterhaltung nicht gut verläuft, dann sagen Sie es.
– Das werde ich tun, Signor Merz.
Im Vergleich mit Adriana Bonni wirkt er geradezu diffus. Er denkt nicht genau, und er besitzt nur ein geringes plastisches Vorstellungsvermögen, um sich Probleme zu vergegenwärtigen. Er hat vielmehr das Gefühl, dass es ihn irgendwo juckt , und nun kratzt er sich an allen möglichen Stellen, ohne den richtigen Punkt zu finden. Genau so kommt er mir vor, wie ein rasch gealterter Jüngling, dessen Fühlen und Denken mit den Jahren nicht reifer geworden ist. (Meine innere Stimme sagt mir, dass er Drogen nimmt, und das nicht zu wenig. Soll ich das erwähnen?
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