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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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unklares Mus , ein Kompott aus falschen Träumen, Angeberei, Feigheit und ein paar elend schlappen Charmeimpulsen. Er blickt glasig und verstimmt, er rührt sich nicht von seinem Platz.

    Ich nehme meine Utensilien vom Stuhl und greife nach dem Schlüssel des Restaurants, der noch immer auf dem Tisch liegt. Ich nehme ihn in die Hand, stehe auf, gehe zur Tür, schließe auf und lege den Schlüssel zurück. Ich sage nichts mehr, und ich warte auch nicht darauf, dass Lucio etwas sagt. Dann verschwinde ich und weiß genau, dass ich das Restaurant Alla Sophia nie mehr betreten werde. In Mandlica sollte es Besseres geben als traditionelle italienische Küche mit sizilianischen Akzenten.

3
    P AULA UND ich sind täglich viele Stunden zusammen und verbringen jede Nacht miteinander. Meist übernachten wir unten, auf ihrem kleinen Landgut, und kommen, wenn sie in der Pension am frühen Morgen zu tun hat, dorthin zum Frühstück. Ist noch kein Gast im Frühstücksraum, frühstücken wir zusammen. Übernachten wir aber in der Pension, schleicht sie in der Nacht zu mir, genau wie beim ersten Mal. Außer Maria (und nun
auch Lucio) weiß bisher kein Mensch in Mandlica von unserer Beziehung.

    Es ist anstrengend, diese Beziehung derart geheim zu halten. Und langsam frage ich mich, warum diese Geheimhaltung überhaupt noch nötig ist. Paula war es anfangs sehr wichtig, dass niemand von uns wusste, aber jetzt, da einige Zeit vergangen ist, sollten wir uns auch zusammen in der Öffentlichkeit zeigen. Ich zögere aber noch etwas, Paula diesen Vorschlag zu machen, ich warte vielmehr auf einen günstigen Moment, der sich von allein ergeben sollte.

    Das Zusammenleben mit Paula ist die stärkste emotionale Erfahrung, die ich nach meinen Kinder-und Jugendjahren gemacht habe. Ich habe es nie für möglich gehalten, dass eine solche Intensität des Zusammenseins möglich ist. Die Beziehungen zu meinen früheren Freundinnen waren demgegenüber nur harmlose Spaziergänge, die man unternimmt, weil man dann und wann einmal spazieren gehen sollte und einem gerade nichts anderes einfällt. Man schlendert so daher, man redet über dieses und jenes, und wenn man sich nach einigen Tagen wiedersieht, redet man über etwas anderes. Jetzt aber knüpft jede Begegnung an frühere Begegnungen an, und wir erleben beide, dass unsere Geschichte immer reicher wird und immer mehr Themen anzieht, die uns beschäftigen und berühren.

    Und so entdecke ich, was Liebe in meinem Fall alles sein kann, denn Paula ist wie ein Spiegel, der mich meine
eigenen Themen und Passionen heftiger und intensiver erleben lässt. Alles, was ich jetzt noch sage, denke und fühle, verläuft über eine emotionale Brücke , die sich jedes Mal beim Wiedersehen erneut zwischen uns aufbaut. Ich erkenne es daran, dass ich beinahe alles, was ich in den Stunden des Getrenntseins denke und fühle, hinterher auch wieder mit Paula bespreche. Ich löse es von mir, fixiere es und biete es auf unserer emotionalen Bahn an, und ich erlebe, wie es dort abgeholt, aufgeladen und zurückgeschickt wird. ( Abholung, Aufladung, Rückkopplung – das sind die Lademomente der Liebesemotionen.) So gesehen, löst die Liebe das Schweigen allmählich auf. Er gibt seine Geheimnisse eins nach dem andern preis, er redet, öffnet sich und verliert die Züge von Erstarrung und Isolation, die ihm zuvor deutlich anzusehen waren. (Die Liebe könnte mir wahrhaftig ein anderes, zweites Leben ermöglichen, das glaube ich jetzt.)

    In letzter Zeit ist es manchmal vorgekommen, dass wir uns scheinbar durch Zufall mitten in Mandlica begegnen. So betrat ich neulich Albertos Buchhandlung und sah, dass Paula vor einem Regal stand und sich sofort umdrehte, als ich in den Raum kam. Wir grüßten uns wie zwei halbwegs Fremde, Paula lachte dabei, es war, als spielten wir Theater. Auch in einem Lebensmittelladen sind wir uns begegnet, sie stand vor der Theke und bestellte gerade etwas Käse, als ich hinzukam. Wir grüßten uns wieder und führten (auf Italienisch) eine Unterhaltung über die Vorzüge bestimmter Käsesorten, und wir übertrieben es so, dass die Verkäuferin fast schwindlig wurde und die Sorten am Ende verwechselte. Ein ganz
ähnliches Spiel führten wir in einem Dolci-Laden auf, als ein Verkäufer uns einige Schokoladen aus Mandlica kosten ließ. Wir kosteten, diskutierten, fragten nach den Rezepten, entwarfen selbst welche und blieben fast eine Stunde in dem Geschäft.

    Ich habe eine Theorie, warum wir uns immer

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