Das Kind, Das Nicht Fragte
Antipasti (natürlich nicht, über diese Spielereien ist sie hinaus), sie bestellt Pasta (und natürlich Ravioli , weil sie sich leicht und unkompliziert essen lassen). Beim Hauptgericht wählt sie Doradenfilet , denn auch in diesem Fall weiß sie genau, dass ein solches Gericht aus zwei oder drei kleinen Stücken Fischfilet besteht, die in kaum zehn Minuten, zusammen mit etwas Gemüse, gegessen sind. Ein Dessert? Nein, danke, lieber einen starken Kaffee.
Am Ende unseres Gesprächs bittet sie darum, dass ich sie mit Arbeit eindecke. Ich gebe ihr einen kleinen Stoß ausgefüllter Fragebögen zur Auswertung und erkläre ihr, wie sie dabei vorgehen soll. Als wir mit allem durch sind, bittet sie noch um eine Bücherliste mit zehn Klassikern der Ethnologie. Sie erscheint fit , absolut fit, ich habe lange keinen so rasch wahrnehmenden und mitdenkenden Menschen mehr erlebt. Bevor wir uns verabschieden (und das Gespräch war sachlich, ausschließlich sachlich , so dass ich bereits erleichtert bin), sagt sie jedoch noch etwas Merkwürdiges, das mich kurz aufhorchen lässt. Ich will ihr die Hand geben (wir stehen bereits neben dem Tisch), da verzögert sie das Händereichen um einen kurzen Moment.
– Darf ich Sie auch einmal zum Essen einladen? fragt sie.
– Wenn unsere Zusammenarbeit richtig begonnen hat, dann gerne, antworte ich.
– Ich würde Sie in ein Fischlokal im Hafen einladen, sagt sie. Da möchten Sie doch schon die ganze Zeit hin.
– Ich möchte da hin? Wer behauptet denn sowas?
– Ich behaupte das, ich denke es mir.
– Aha, Sie denken es sich. Sie denken wohl, Sie haben nun auch bereits raus, wie man die Gedanken der Menschen liest.
– Ja, in Ihrem Fall denke ich das.
– Sie glauben ernsthaft, Sie wissen, wie ich denke und fühle?
– Ja, das denke ich.
– Na dann, irgendwann werden wir sehen, ob Sie recht haben.
– Genau, wir werden sehen.
Wir geben uns endlich die Hand, und ich sehe, dass sie Wert darauf legt, zumindest ansatz-und förmlicherweise
auf die rechte und linke Wange geküsst zu werden. Als ich es tue, rieche ich ihr Parfum, und es erinnert mich an den ersten Aperitif, den ich in Lucios Restaurant einmal erhielt. Das ist ja Jasmin! – hätte ich beinahe gesagt, lächle aber nur. Sie lächelt zurück, packt ihren Laptop unter den Arm, greift nach ihrer hellbraunen Lederaktentasche und verlässt das Restaurant. Als sie endlich draußen ist, spüre ich, wie müde ich bin. Ich falle beinahe wieder auf meinen Stuhl, ich will nichts als Ruhe. Als ich aufblicke, erkenne ich, dass Lucio versteht, was gerade mit mir passiert. Er kommt an meinen Tisch und sagt:
– Das war anstrengend, nicht wahr?
– Ja, sage ich, jeden Tag möchte ich das nicht erleben.
– Jetzt trinken Sie ein Glas Wein und entspannen sich.
– Gern, Lucio, das ist ein guter Gedanke.
Ich räume meine Utensilien zusammen und lege alles auf einen Stuhl. Ich starre auf die kleine Kerze vor mir und den winzigen Blumenstrauß in der Vase. Vielleicht war es doch ein Fehler, Adriana Bonni ein Praktikum angeboten zu haben. Ich muss sie auf Distanz halten, da hat Paula recht. Ich habe keine Ahnung, was unten, im Hafen, während eines gemeinsamen Abendessens so alles geschehen könnte. Sicher hat sie dort bereits sehr oft gegessen, und sicher beherrscht sie eine Menge Tricks, um einem solchen Abendessen etwas Seltenes, Überraschendes abzugewinnen. Mit mir an einem Tisch zu sitzen, Fischsuppe zu löffeln und ein paar Gläser Wein zu trinken – das wird ihr bestimmt nicht genügen. Irgendetwas wird sie sich einfallen lassen, ich spüre das. (Erste, kleine Vermutung:
Sie wird mich im Wagen ihres Vaters abholen, in irgendeinem eleganten Cabrio. Wir werden in diesem hellgrünen (?) Wagen die geschlängelte Straße zum Hafen langsam und gefühlvoll hinabrollen, und sie wird dabei – meine Herren, woher weiß ich denn jetzt auch noch so etwas? – sie wird nicht angeschnallt sein . Um nicht spießiger als nötig zu erscheinen, werde ich mich ebenfalls nicht anschnallen. Nicht angeschnallt werden wir hinab in die dunklen Hafenzonen fahren, und sie wird nicht vor einem Restaurant, sondern auf dem großen Parkplatz hinter der Mole parken. Während unserer Fahrt wird sie Musik einer CD laufen lassen. Musik , nun gut, aber welche? Ich bin noch überfragt, und das bin ich selten.)
Ich sitze eine Weile regungslos auf meinem Platz, Adriana Bonni ist in meinen Gedanken noch erstaunlich präsent. Langsam verlieren sich die letzten
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