Das Kind, Das Nicht Fragte
dorthin wollten wir fahren, nicht weiter, doch als wir plötzlich auf der Autobahn einen Wegweiser zum Hafen sehen, auf dem die Fährverbindungen nach Griechenland, Albanien und in die Türkei angezeigt sind, sagt Paula:
– Sie fahren von hier aus nach Griechenland! Es ist gar nicht weit! Was meinst Du?
– Du meinst, wir sollten ein Fährschiff nehmen?
– Das ist doch eine wunderbare Idee. In ein paar Stunden sind wir zum Beispiel in Korfu.
– In Korfu? Bist Du Dir sicher?
– Aber ja, Korfu liegt doch Brindisi direkt gegenüber. Ach komm, lass uns diesen Abstecher machen. Wir haben so häufig
von Griechenland gesprochen, und nun stehen wir schon vor der Tür.
Wir fahren in das Hafengelände und finden dort den überlaufenen Terminal, in dem man die Tickets für die Griechenland-Fahrten kauft. Das Fährschiff legt am späten Abend ab und braucht bis Korfu ungefähr sieben Stunden. Wir überlegen nicht lange, wir kaufen ein Ticket für eine kleine Kabine zum Übernachten und rollen keine zwei Stunden später mit Hunderten anderer Griechenland-Reisender zusammen in den weit geöffneten, nach Benzin und Metall riechenden Rachen der Fähre. Später stehen wir oben auf Deck und erleben, wie das Schiff langsam ablegt. Ein paar kleine Lotsenboote begleiten es bis aufs offene Meer, dann drängt sich eines der Boote dicht an den Rumpf unseres Schiffes heran, und der Lotse springt leichtfüßig von Bord. Die Fähre sendet ein lautes Signal, wir nehmen Kurs auf die Insel Korfu, und eine halbe Stunde später sind wir auf weiter See, unter dem blank geputzten Sternenhimmel.
– Bist Du je in Griechenland gewesen? fragt Paula.
– Nein, nie, und Du?
– Ich auch nicht. Und ich frage mich gerade, warum eigentlich nicht.
– Ja, warum nicht? Du bist doch eine Insulanerin, da hätte es gut gepasst, auf die griechischen Inseln zu reisen.
– Ja, hätte es. Ich wollte aber erst Griechisch lernen, und als ich Griechisch konnte, wollte ich nicht allein reisen. Allein nach Griechenland? Das geht doch nicht.
– Nein, das geht wirklich nicht. Aber jetzt bist Du nicht mehr allein, Du bist überhaupt nie mehr allein.
– Nein, bin ich nicht. Ich kann es noch gar nicht glauben, ich muss mich erst noch daran gewöhnen.
– Und wie ist es – nicht mehr allein, sondern zu zweit?
– Soll ich Dir etwas sagen? Es kommt mir so vor, als sei ich niemals allein, sondern schon immer zu zweit gewesen.
– Seltsam, mir geht es genau so. Ich habe die Zeiten des Alleinseins schon so gut wie vergessen, dabei waren es recht lange Zeiten.
– Ja, diese Jahre sind wie ausgewischt.
– Wie ausgewischt und vergessen.
Wir schlafen in einer der engen Kabinen, die beiden Betten liegen übereinander. Frühmorgens, kurz nach vier, werden wir von einer lauten Stimme auf Griechisch geweckt:
– Was sagt er? frage ich.
– Er sagt, wir sind gleich in Korfu, die Lichter der Insel sind bereits in der Ferne zu sehen.
Wir ziehen uns an und gehen wieder auf Deck und sehen am Horizont die schmalen Lichterstreifen der Küste Korfus, unterbrochen von tiefschwarzen Partien. Wir trinken einen starken Kaffee, essen aber nichts, dann bringen wir unser leichtes Gepäck hinunter zum Wagen. Wenig später legt das Schiff an, es ist gegen fünf, die Stadt Kerkira liegt noch im Dunkel, nur der Hafen ist gut erleuchtet, ein tiefgelbes Terrain mit sehr wenigen Menschen, auf dem ein paar Autos nervös kreisen. Als wir aus dem Schiff mit dem Wagen aufs Land rollen, fragt Paula:
– Wollen wir in Kerkira bleiben?
– Es ist noch sehr früh, in Kerkira wird noch nichts los sein, lass uns doch weiterfahren, hinaus aufs Land, an der Küste nach Süden entlang, nach Kerkira fahren wir später.
Wir kaufen im Hafen eine Landkarte und studieren sie ein paar Minuten, dann trinken wir noch einen zweiten Kaffee, und Paula übernimmt das Steuer, um uns in den Süden zu fahren. Wir sind still, wir reden kaum ein paar Worte, wir sind beide sehr angespannt, es ist, als wären wir auf einem fremden Kontinent gelandet. Manchmal sagt einer von uns etwas Knappes, Kurzes, aber es ist meist nur ein Ausruf, der den anderen auf etwas aufmerksam macht.
Eine halbe Stunde später haben wir die Stadt bereits verlassen und rollen auf einer breiten, gut ausgebauten Straße nach Süden. Plötzlich biegt die Straße zum Meer hin ab und wird schmaler, und wir fahren sehr langsam und werden laufend von schnelleren Wagen überholt, die ein festes Ziel ansteuern. Es wird langsam heller,
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