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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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sich noch keiner von uns nähern.

    Er winkt ab, und ich bemerke, dass er nicht länger über dieses Thema sprechen will. Ich zeige ihm die Bücher, die ich ausgewählt habe, und wir sprechen eine Weile über Literatur. Kurz bevor ich aufbreche, sagt er dann plötzlich (wir hatten uns schon zu duzen begonnen):
    – Beniamino, Du weißt, dass unser kleiner Ort einen Nobelpreisträger hervorgebracht hat?
    Ich verneine, nein, das weiß ich nicht. Er lacht und holt aus, und so höre ich zum Abschluss unserer Begegnung die seltsame und rührende Geschichte eines Lyrikers, der in ärmlichen Verhältnissen hier in Mandlica aufgewachsen ist und zeit seines Lebens beinahe ausschließlich
Gedichte verfasst hat. Niemand wollte sie lesen, und alle hier im Ort belächelten seine Kunst. Völlig unverhofft geschah dann einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ein Wunder: Der Belächelte erhielt den Nobelpreis für Literatur, aus heiterem Himmel ( inaspettatamente … – sei, wie Alberto lachend sagt, das Wort gewesen, das damals an jeder Straßenkreuzung von Mandlica hunderte Male zu hören gewesen sei).

    – Das Haus, in dem er geboren wurde und seine Kinderjahre verbrachte, ist heute ein kleines Museum. Du solltest es Dir anschauen, Beniamino! Heute Nachmittag ist es geöffnet, für drei, vier Stunden. Geh hinauf in die Oberstadt, schau es Dir an, ich sage Dir, wie Du dorthin gelangst!

11
    D AS KLEINE Haus in der Oberstadt ist nicht schwer zu finden. Es liegt in einer sehr engen Gasse, durch die man nur zu Fuß vorankommt. Ein Schild schickt den Besucher durch ein Tor in den Innenhof, von wo eine schmale Außentreppe hinauf in den ersten Stock führt. Dort steht man für einen Moment auf einem breiten Podest vor einer einfachen Haustür, die erst nach mehrmaligem Klingeln geöffnet wird.

    Ich betrete die Wohnung und sehe sofort, dass es Paula ist, die mir die Tür aufhält.
    – Ah, Sie sind es! sage ich, aber sie antwortet nicht.
    – Wir kennen uns doch, sage ich, ich wohne in der Pension Ihrer Schwester. Ich habe Sie dort schon mehrmals gesehen.
    Sie tut, als höre sie nicht, was ich sage. Mit der rechten Hand zeigt sie den Weg, der anscheinend für den üblichen Rundgang vorgesehen ist, dann deutet sie auf ein dickes Gästebuch, in das ich mich wohl eintragen soll.
    – Das hat Zeit, sage ich, ich möchte mir zuerst die Räume anschauen.

    Sie ist mir ganz nahe, sie ist kaum einen Meter von mir entfernt. Zum ersten Mal kann ich sie genauer und ganz aus der Nähe betrachten, und es kommt mir wahrhaftig so vor, als hätte ich sie bisher noch gar nicht richtig wahrgenommen. Sie ist erstaunlich groß, ja, sie ist wohl noch etwas größer als ich. Ihr dichtes Haar glänzt tiefschwarz ohne ein einziges graues Haar, und ihre Gesichtszüge sind scharf und prägnant, wie die einer Ballett-oder Tango-Tänzerin.
    Wie komme ich denn auf Ballett oder Tango? denke ich und spüre gleich, dass es sich wohl um eine meiner sogenannten Ahndungen handeln mag. Sie hat einmal Ballett oder Tango getanzt, da bin ich sicher, denke ich weiter, verbiete mir aber strikt, sie jetzt auf solche Themen anzusprechen. Sie wendet sich von mir ab und geht mir voraus in den nächsten Raum, schon die Art, wie sie sich auf dem rechten Fuß sehr rasch dreht, erscheint mir wie eine typische Tänzerinnen-Bewegung, Ballett, Tango! denke ich wieder und komme mir wie ein begnadeter Hellseher vor.

    Dann aber erschrecke ich, denn sie sagt wahrhaftig mitten in diese fast unheimliche, ernste Stille hinein einen ersten Satz. Er ist nicht für mich persönlich bestimmt, sie spricht vielmehr nur den fremden Besucher an, indem sie leise, aber bestimmt erklärt, dass ich mich nun im Geburtszimmer des Nobelpreisträgers befinde. Darauf nennt sie das genaue Datum der Geburt und fährt mit einigen Bemerkungen zu seiner Herkunft fort: Namen der Eltern, Schulbesuch, erste kleine Erfolge als Lyriker mit Gedichten in einem von Literaturfreunden dieser Region veröffentlichten Lyrik-Blättchen.

    Während ich mir das Zimmer anschaue, bleibt sie unbewegt und stumm neben mir stehen. Sie schaut geradeaus auf das sehr schmale und mit einer voluminösen Decke drapierte Bett. Es sieht aus wie das Bett eines übergroßen Kindes, ja, es sieht aus wie ein Kinderbett, ist aber letztlich doch wohl ein Bett für Erwachsene, ich kann nicht lange hinschauen, so zwittrig kommt es mir vor. Daneben steht ein viel zu hoher Nachtschrank, der gar nicht zum Bett passt. Wer in diesem Bett liegt, wird

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