Das Kind, Das Nicht Fragte
vorspielt!
Ich habe plötzlich Lust, den genannten Orangenlikör zu probieren, und ich sage das auch. Den probieren wir jetzt aber auf meine Kosten! sage ich, und Alberto greift wieder sofort nach seinem Handy, um zwei Gläschen zu bestellen.
– Wissen Sie eigentlich mehr über die beiden Schwestern? Wissen Sie vielleicht sogar, warum sie hier schon so lange leben? frage ich vorsichtig.
– Oh ja, ein wenig weiß ich schon, aber die wirklich wichtigen Dinge, die weiß ich nicht. Die beiden kamen ja vor langer Zeit hierher, Maria war damals übrigens noch eine junge Stewardess,
und sie machte wohl eine Ferienreise mit ihrer älteren Schwester, die ein wenig auf sie aufpassen sollte. Sie blieben dann hier hängen, irgendwelche Männergeschichten spielten eine Rolle. Jedenfalls gingen sie nicht mehr fort, sie blieben einfach. Paula arbeitete eine Zeitlang in der Küche des besten Restaurants, das wir hier haben, und Maria arbeitete in der damals noch erheblich kleineren Pension, die Sie ja kennen. Das zog sich so hin, aber wir sahen die beiden fast niemals zusammen. Maria ging aus, sie zeigte sich jeden Tag, und sie unterhielt sich mit vielen Menschen. Paula aber ging niemals aus, und wenn man sie sah, bewegte sie sich rasch, als müsste sie dringend den nächsten Zug nach Siracusa bekommen. Dann aber geschah etwas Seltsames, niemand hier in Mandlica hatte das erwartet.
– Maria heiratete, sage ich leise.
– Richtig, aber woher wissen Sie das?
– Sie heiratete den Besitzer des Restaurants, in dem Paula arbeitete.
– Ah, ich verstehe, sie hat es Ihnen erzählt.
– Nein, hat sie nicht, mein Wissen ist ganz und gar intuitiv.
– Intuitiv?! Aber das ist ja unglaublich!
– Manchmal weiß ich bestimmte Dinge durch Intuition. Im Deutschen gab es in früheren Jahrhunderten dafür einmal das schöne Wort ›Ahndung‹.
– ›Ahn-dunk‹? Spreche ich es richtig aus?
– Perfekt.
– ›Ahn-dunk‹ – das ist ein geheimes Wissen, das die anderen nicht haben? Wissen, an das man durch Überlegung nicht herankommt?
– Ja, es ist Wissen, das aus dem Dunkel kommt, Dunkelwissen.
Er zieht mehrmals kräftig an seiner Zigarre und zeigt mit einem Finger auf den jungen Burschen, der aus der Bar schräg gegenüber zu uns kommt, um uns den Orangenlikör zu servieren. Wir bedanken uns, lehnen uns ein wenig zurück, stoßen an und schlürfen das kleine Glas leer. Ich schließe kurz die Augen und nehme mir vor, niemals im Leben mehr Zitronen-oder Orangensirup zu trinken.
– Maria heiratete also, und so wurde sie die Chefin des Restaurants, in dem Paula damals noch arbeitete. Von dem Tag an wurde Paula in diesem Restaurant nicht mehr gesehen. Eine Weile war sie verschwunden, doch ein paar Monate nach der Hochzeit, als Maria zusätzlich auch noch die kleine Pension gehörte, kam sie zurück und arbeitete in der Pension.
– Sie arbeitet schon so lange in der Pension, die ihrer Schwester gehört?
– In der Tat.
– Und ihre Schwester ist nach wie vor mit dem Besitzer des Restaurants verheiratet?
– Man hat hier nie von etwas anderem gehört, aber man hat die beiden seit Jahren nirgends mehr zusammen gesehen. Verstehen Sie? Verstehen Sie, was ich meine?
– Ja, ich glaube schon.
– Gut, dann muss ich mich nicht genauer ausdrücken. Alles ist in der Schwebe zwischen den beiden Schwestern und zwischen ihnen und Lucio, denn Lucio ist der Name des Restaurantbesitzers, dessen Restaurant ich Ihnen dringend zu besuchen empfehle. Es heißt übrigens merkwürdig genug »Alla Sophia«.
– Merkwürdig? Warum ist das merkwürdig?
– Weil niemand von uns weiß, wer oder was mit Sophia gemeint
ist. Es gibt diese Sophia nicht, oder es gibt sie, aber niemand weiß, wer das sein soll.
Ich führe meine Zunge noch einmal kurz in das kleine Glas, in dem sich die letzten Tropfen des dunklen Likörs befinden. Es ist, als zerteilte ich eine kompakte Orange und als stieße ich mit der Zunge in ihr Innerstes, das ihre Aromen schlagartig freigibt.
– Fabelhaft! sage ich bewundernd.
– Ja, antwortet Alberto, aber Sie müssen mir versprechen, immer nur ein Glas davon zu trinken.
– Ich würde mich gerne einmal länger mit Paula unterhalten, sage ich. Meinen Sie, Sie könnten mir helfen und ein solches Gespräch arrangieren?
– Ausgeschlossen, antwortet Alberto, ich kann mit beinahe jedem Einwohner dieses Ortes ein Gespräch arrangieren, nicht aber mit Paula! Sie ist der schwierigste Fall, sie ist ein Geheimnis, ihr konnte
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