Das Kind, Das Nicht Fragte
den Laden schließe, mit den letzten, übrig gebliebenen Kunden ein Glas Wein. Ich führe das Leben eines Weisen, und für eine Handvoll Jüngerer bin ich tatsächlich ein Weiser, dem sie gern zuhören, wenn er von der sogenannten
»schönen Literatur« spricht. Es lebe die schöne Literatur, sie lebe! ruft er, nimmt seine Brille ab und legt sie neben meinen Bücherstapel.
Natürlich will er bald darauf auch wissen, was mich nach Mandlica geführt hat. Ich erkläre ihm mein Forschungsprojekt, und er reagiert, als habe ich vor, das Fach Ethnologie durch ein Meisterwerk der subtilsten Befragung einer ganzen Ortschaft von Grund auf zu erneuern. Grandios, unglaublich, und wie schön, dass ich so etwas noch erleben darf! Mandlica als Gegenstand eines ethnologischen Meisterwerks! Die Welt wird von uns sprechen, wir Mandlicaner werden bald weltberühmt sein, zumindest unter den großen Ethnologen!
Ich frage ihn, ob ich in den nächsten Tagen mit ihm den Anfang meiner Befragungen machen dürfe, und er ist einverstanden. Mit wem sollten Sie sonst anfangen? Wer weiß besser über alles hier Bescheid? Und wer ist unvoreingenommener, ja, für einen Sizilianer geradezu abenteuerlich parteilos? Ich habe keine Familie und damit auch keine ökonomischen Interessen, ich lebe allein, ich bin frei, ich werde Ihnen ohne Vorurteile und ohne Verzerrungen diese Welt hier erklären, klar und präzise, aber mit Leidenschaft! Ich liebe diesen Ort, ich liebe ihn über alle Maßen, das müssen Sie mir nachsehen, das ist vielleicht der einzige Fehler, den ich habe. Aber seien Sie unbesorgt: Dieser Fehler wird mich nicht davon abhalten, die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit!
Ich will ihn fragen, warum er nicht verheiratet ist, als ich Paula erkenne, die wenige Meter von uns entfernt
mit raschen Schritten auf dem Bürgersteig entlanggeht. Mir fällt sofort auf, dass sie – anders als die anderen Frauen in ihrem Alter – keine Einkaufstasche, sondern nur eine dunkelgrüne Umhängetasche trägt. Ich habe keinerlei Ahnung, wohin sie mit so raschen Schritten unterwegs ist, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie mit jemandem verabredet ist und einen dringenden Termin einhalten möchte.
– Das ist ja Paula! entfährt es mir. Es ist mehr ein erstaunter Ausruf als eine Feststellung, und Alberto reagiert sofort.
– Oh, Sie kennen Paula? Wohnen Sie am Ende in der Pension ihrer Schwester?
– Ja, da wohne ich, und ich wohne sehr schön und bequem, denn ich habe sogar mehrere Zimmer, gleich unter dem Dach.
– Dann wohnen Sie wirklich nicht schlecht. Aber ich wette, Sie haben noch kein Wort mit Paula gesprochen!
– Das stimmt. Ich sehe sie mehrmals am Tag, aber sie geht mir aus dem Weg. Ich begegne ihr nur flüchtig, sie grüßt nicht einmal, sie ist wie ein Schatten, der gleich um die nächste Ecke verschwindet.
Alberto zündet seine Antico toscano , die erloschen ist, erneut an, pafft etwas Rauch vor sich hin und schaut mich so direkt an, wie er es zuvor noch nicht getan hat.
– Paula ist ein schwieriger Fall, Paula ist überhaupt einer der schwierigsten Fälle in ganz Mandlica. Sie unterhält sich mit niemandem, und sie lebt seit vielen Jahren in diesem Ort. Jahrelang beinahe ohne jedes Gespräch, können Sie sich das vorstellen? Für die Menschen hier ist sie ein Rätsel, eine Frau, die
es eigentlich nicht geben darf und die ohne Zweifel ein Geheimnis hat, das sie aber niemals preisgeben wird.
– Ihre jüngere Schwester ist umgänglicher.
– Ja, das ist sie. Maria hält richtige Vorträge, wenn sie mit einem spricht, haben Sie das schon bemerkt? Sie lässt einen kaum zu Wort kommen, sie ist genau das Gegenteil von ihrer Schwester. Und sie kann sich so fabelhaft in Rage reden, dass es eine wahre Freude ist. Ich mag sie sehr, und ich höre ihr gerne zu. Wenn sie hier vorbeikommt, winke ich sie in meinen Laden, bestelle uns zwei Gläschen Orangenlikör und lasse sie reden, reden und noch mal reden. Sie kann fluchen und schimpfen wie keine zweite Frau in Mandlica, und sie hat etwas ganz Seltenes: ein dramatisches Talent. Glauben Sie mir, Beniamino, Maria wäre auf einer Bühne bestens aufgehoben, als Schauspielerin, als Regisseurin, aber auch als Autorin von Stücken. Sie kann einfach alles, was auf der Bühne gebraucht wird, sie ist brillant. Und warum ist sie so brillant? Weil sie das typische Schweigen der Sizilianer nicht erträgt, weil sie den Sizilianern, boshaft wie sie ist, eine redegewaltige Italienerin
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