Das Kind, Das Nicht Fragte
wieder ein bisschen und bleibt wieder stehen.
Ich aber kann am Stück laufen, ohne Pause, nicht besonders schnell, aber am Stück, ohne Pause. Ich glaube, ich könnte ein guter Langstreckenläufer werden, aber ich habe das Langstreckenlaufen noch nicht richtig trainiert. Schnell laufen kann ich jedenfalls nicht, nein, ich laufe lange Strecken viel besser als kurze. Jeden Tag lange Strecken zu laufen würde mir sehr großen Spaß machen, aber wo könnte ich es trainieren und mit wem? Manchmal laufe ich allein von unserem Haus aus zum Rhein und wieder zurück, ohne Pause, drei-oder viermal, so etwas kann ich, aber ich laufe immer allein, und niemand weiß etwas davon, nein, ich habe über mein langes Laufen noch mit niemandem …
Ich geriet ins Stocken, ich musste wieder schlucken, ich hatte plötzlich einen sehr trockenen Mund, und es war, als bekäme ich keinen Ton mehr heraus. Was war denn nur los? Eigentlich hatte ich gar nicht sagen wollen, dass ich über das Langstreckenlaufen noch mit niemandem gesprochen hatte, warum war ich überhaupt auf das Thema gekommen, die Sache mit dem Langstreckenlaufen war doch geheim, und ich hatte sie bisher immer für mich behalten.
Alle paar Tage lief ich heimlich zum Rhein, drehte dort um, lief wieder zurück und lief dann dieselbe Strecke noch einmal. Dieses Laufen war wie eine starke Befreiung, aber ich erzählte niemandem davon, weil ich fürchtete, deswegen nur ausgelacht zu werden. Ein Junge, der lieber lange läuft als Fußball zu spielen – das gab es doch nicht, und wenn es so etwas gab, würde daraus nichts werden. Gerne wäre ich einmal zusammen
mit einem anderen Jungen diese Strecke gelaufen, aber ich kannte keinen anderen Jungen, der so etwas gerne gemacht hätte. Am liebsten aber wäre ich einmal in einem Wettkampf gegen einen meiner Brüder gelaufen, ich war mir ganz sicher, dass ich schneller gelaufen wäre als er, aber ich konnte meine Brüder nicht fragen, weil sie mich nur ausgelacht und das Langlaufen wieder für ein Zeichen dafür gehalten hätten, dass ich sie nicht alle hatte.
Im Beichtstuhl war es wieder sehr still, dann räusperte sich plötzlich der Priester, und ich bemerkte, dass er sich zu mir umdrehte. Ich saß jetzt zusammengesunken da und starrte nur vor mich hin, aber ich spürte diese kurze Bewegung hinter dem Gitter genau.
– Du hast noch nie jemandem von Deinen Langläufen erzählt, habe ich recht? fragte der Priester.
– Nein, antwortete ich, ich habe noch nie davon erzählt.
– Es fällt Dir schwer, anderen so etwas zu erzählen, habe ich recht?
– Ja, sagte ich, es fällt mir sehr schwer.
– Dabei kannst Du sehr gut erzählen, und ich höre Dir sehr gerne zu. Erzähl mir noch etwas, erzähl einfach weiter, erzähle mir, was Dir gerade in den Sinn kommt.
Ich schluckte ein letztes Mal, jetzt ging es mir wieder besser, und plötzlich waren auch wieder der Atem da und die Spucke und der feste Ton in meiner Stimme.
– Eigentlich möchte ich nicht nur erzählen, sondern auch etwas fragen. Meine Brüder lassen mich nie etwas fragen, und auch in der Schule kann ich es nie. Es geht einfach nicht, ich
kann es nicht. Dabei habe ich doch viele, nein, sehr viele Fragen, weil ich die meisten Sachen nicht richtig verstehe und weil sie mir niemand erklärt. Darf ich …
Ich geriet wieder ins Stocken, aber der Priester reagierte diesmal sehr schnell:
– Ja, natürlich darfst Du mich etwas fragen, nur los, frag mich etwas!
– Darf ich auch den lieben Gott etwas fragen?
– Auch das. Stell mir Deine Frage, und ich werde darüber nachdenken, wie wir beide sie dann dem lieben Gott stellen.
– Lieber Gott, warum kommst Du uns nicht einmal besuchen und schaust Dir an, wie wir leben, und sagst meinen Brüdern, dass es nicht richtig ist, mich immerzu auszulachen und nie mit mir zu spielen?
– Weiter, sagte der Priester, stell die nächste Frage und dann wieder eine und wieder!
– Lieber Gott, warum spiele ich nicht so gerne Fußball wie die anderen Jungen, sondern laufe lieber lange Strecken?
– Weiter, die nächste Frage!
– Lieber Gott, warum schmeckt mir das Mittagessen nie so wie meinen Brüdern, denen das Mittagessen fast immer schmeckt?
– Weiter, weiter!
– Lieber Gott, hörst Du mir auch gut zu, wenn ich bete, und verstehst Du meine Gebete, oder bete ich zu durcheinander?
Ich sprach nicht mehr weiter, ich bewegte mich nicht – denn es war plötzlich so wunderbar still. Noch niemals in meinem Leben hatte ich eine
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