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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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entgegen, um von dort seine Weisungen zu erhalten?

    Einen Augenblick lang dachte ich daran, einfach aufzugeben und den Beichtstuhl zu verlassen, dann aber sagte ich mir, dass eine solche Aktion sehr unfreundlich hätte erscheinen können. Ich saß einem Priester und vielleicht sogar Gott gegenüber, da war es doch unmöglich, sich einfach davonzustehlen, nur weil man es nicht schaffte, die zehn Gebote von eins bis zehn durchzugehen und dabei seine Sünden zu bekennen. Es war eine verfahrene Situation, und ich wusste keinen Ausweg. Unbeweglich blieb ich knien, als ich wieder die ferne Stimme hörte:

    – Erzähl mir von Dir, Benjamin! Hast Du Geschwister? Wo gehst Du zur Schule? Und was spielst Du am liebsten? Ist es Fußball oder vielleicht ein anderer Sport? Oder magst Du überhaupt keinen Sport? Vielleicht magst Du ja gar keinen Sport, das könnte auch sein. Du hörst, ich weiß nichts von Dir, und das ist schade. Erzähl mir ein wenig, ich höre zu.

    Kein Fremder hatte je so mit mir gesprochen, nur meine Eltern hatten das halbwegs so getan. Sie fragten aber nie so direkt, und sie forderten mich auch nie derart freundlich und ruhig auf, einfach einmal drauflos zu erzählen. Dabei hatte ich viel zu erzählen, oh ja, ich hatte sehr viel zu erzählen!

    Ich war überrascht, und ich dachte darüber nach, womit ich beginnen sollte. Da aber bemerkte ich, dass ein
solches Nachdenken doch gar nicht nötig war. Ich saß nicht den Eltern gegenüber, die mich kannten und die meist nur etwas ganz Bestimmtes wissen wollten, nein, ich saß einem Fremden oder einer fernen, vielleicht aus dem Himmel kommenden Stimme gegenüber, die mich nicht kannte und die mir alle Freiheiten ließ, dies und das zu erzählen, ohne dass ich mich an Regeln halten oder genaue Auskunft über bestimmte Einzelheiten geben musste.

    Ich habe den nun folgenden Moment als einen der schönsten meines Lebens in Erinnerung, und ich habe noch heute kaum eine Erklärung dafür, was ich damals tat. Ich weiß nur, dass ich das ewige Knien und Händefalten in dem dunklen Gehäuse des Beichtstuhls nicht mehr als passend empfand. Wenn ich von mir erzählen sollte, brauchte ich doch nicht zu knien, denn im Knien konnte kein Mensch gut erzählen. Also reckte ich mich ein zweites Mal auf und sagte:
    – Wenn ich von mir erzählen soll, brauche ich einen Stuhl, im Knien kann ich nicht gut erzählen.

    Die ferne Stimme antwortete nicht gleich, doch nach vier, fünf Sekunden sagte sie:
    – Dann hole Dir doch aus dem Mittelschiff unserer Kirche einen Stuhl und setz Dich darauf! Ich warte so lange.

    Ich stand langsam auf und verließ meinen Platz. Draußen, im Mittelschiff der Kirche, packte ich mir einen Stuhl und schleppte ihn dann vorsichtig zurück ins Dunkel, hinter den schweren Vorhang. Die schmale Kniebank
war mir im Weg, so dass der Stuhl nicht gut passte, ich musste ihn erst seitwärts drehen, dann konnte ich mich mühelos setzen. Ich rückte den Stuhl noch etwas zurecht, so dass ich im Profil zu dem engmaschigen Gitter saß und gegen die Seitenwand des Beichtstuhls blickte. Sollte ich den Kopf drehen, um den Priester hinter dem Gitter im Blick zu behalten? Nein, das war nicht nötig, denn der Priester war ja sowieso nur schlecht zu erkennen. Nicht auf das Sehen, sondern auf das Hören kam es an, und hören konnte ich die ferne Stimme in meiner neuen Sitzposition vielleicht sogar besser als vorher im Knien.

    Ich atmete tief durch, ich legte die Hände flach auf meine Knie, dann begann ich langsam zu erzählen:
    – Ich heiße Benjamin. Ich habe vier Brüder, die sind viel älter als ich. Sie heißen Georg, Martin, Josef und Andreas. Wir leben alle zusammen in einem Haus, das unseren Eltern gehört. Dort ist es sehr schön, aber meine Brüder spielen niemals mit mir. Ich spiele allein, und ich spiele manchmal auch Fußball, aber ich mag das Fußballspielen nicht so sehr wie die anderen Jungs, mit denen ich Fußball spiele. Die anderen Jungs spielen besser als ich, deshalb mag ich das Fußballspielen einfach nicht so, ich schaue aber gern zu, wenn es ein richtiges Fußballspiel mit richtigen Vereinen gibt. Viel lieber als Fußball zu spielen, würde ich gerne laufen, ich kann nämlich viel besser laufen als Fußball spielen. Ich laufe sehr lange, ohne eine Pause zu machen, und das können die anderen Jungs nicht, denn beim Fußball spielen braucht man nicht lange laufen zu können, man läuft nur ein bisschen, und dann bleibt man stehen, und dann läuft man

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