Das Kind, Das Nicht Fragte
ausführlich beschäftige.
Zufrieden bemerke ich weiter, dass ich dem sonstigen Geschehen entrückt bin. Niemand achtet auf mich, die Unterhaltungen bei Tisch werden recht laut und engagiert geführt, und ich freue mich, dann und wann auch einige Details zu den Gerichten mitzubekommen. Die Artischocken kochen sie mit Marsala ein, hättest Du das erraten? höre ich, und weiter: Diese Feinheit der Sauce entsteht durch das Fruchtmus von Kaktusfeigen, in das man etwas Ingwer und Zimt mischt.
Es ist schön, unter lauter Menschen zu sitzen, die sich auf das Essen konzentrieren, darüber eingehend sprechen und nicht auf die Idee kommen, laufend über andere, läppische Themen zu plaudern. Endlich einmal keine Politik und endlich einmal keine Boulevard-Meldungen, nichts davon – in diesem Restaurant geht es ausschließlich um die Feinheiten der Küche und darum, bilderreiche Hymen auf die Meisterschaft ihrer Kochkunst zu singen.
Am liebsten würde ich mitmachen, und das ganz gegen meine sonstige Art. Gewöhnlich esse ich nämlich gerne allein, weil ich mich den Speisen dann besser widmen kann, hier aber würde ich mich durchaus an den Gesprächen
beteiligen, weil es Gespräche von Kennern und Liebhabern sind. Außerdem regt der Wein mich dazu an, ja, ich spüre sogar eine gewisse Ausgelassenheit, die zweifellos von den kleinen Weinproben herrührt. Ich summe bereits leise vor mich hin, tue aber nichts dagegen, dass mir weiter ein Gläschen nach dem andern serviert wird, angeblich passen sie alle genau zu der Speise, die ich jeweils gerade mit größtem Enthusiasmus verzehre. Jeder weiß, dass Weintrinken in Italien zu einer Mahlzeit gehört, dass andererseits aber auch sehr mäßig getrunken wird. Hier aber beobachte ich, dass viel und energisch getrunken wird, eine Runde von vier männlichen Essern in meiner Nähe teilt sich bereits die dritte Flasche, und ein Ende ist noch nicht in Sicht.
Wenn mich meine Brüder sehen würden, wie ich leicht angetrunken, aber noch immer souverän und ideenreich hier unter all den Gourmands sitze und meine private Festmahlzeit feiere! Sie würden ihren Augen nicht trauen, zumal sie wissen, dass ich es in so überfüllten Räumen nicht lange aushalte. Und wie ist das diesmal?! Nichts, kein Unwohlsein, keine Ängste, weder Zweifel noch Skepsis! Ich sitze mit mir und der Welt im Reinen an einem kleinen Eßtisch im fernen Sizilien und feiere mit den Sizilianern die Küche dieser begnadeten Insel, die andere regionale Küchen Italiens vor allem durch eine gewisse Raffinesse des Würzens übertrifft.
Und als wollte ich mir die neu erworbene Sicherheit noch zusätzlich beweisen, schalte ich mein Handy kurz
ein und schaue nach, ob meine Brüder bereits wieder hinter mir her sind. Oh ja! Martin hat bereits viermal versucht, mich zu erreichen! Soll ich es also darauf ankommen lassen, soll ich zurückrufen und ihm endlich einmal die Meinung sagen, so wie es mir mit Josef ansatzweise nach dem Gottesdienst gelungen ist?
Ich halte das Handy noch unschlüssig in der Rechten, als sich die Tür des Restaurants öffnet und Paula herein kommt. Ich bin so erschrocken, dass ich das Handy sofort wieder fortstecke. Sie trägt ein langes, schwarzes, ärmelloses Kleid und eine kleine Goldkette, und sie schaut unglückseligerweise zuerst genau in die Ecke, in der ich sitze. Sie tut aber so, als würde sie mich nicht kennen oder als hätte sie mich nicht bemerkt, jedenfalls durchquert sie den Raum ohne jede erkennbare Regung und verschwindet dann in der Küche. Hat Alberto nicht behauptet, dass sie nicht mehr hier arbeitet wie wohl noch in früheren Jahren? Nun gut, sie arbeitet hier anscheinend wirklich nicht mehr, sonst würde sie nicht erst so spät am Abend kommen. Was aber führt sie dann in dieses Restaurant, und was, verdammt , macht sie jetzt in der Küche?
Ich spüre, wie ihr Auftritt meine Stimmung zum Kippen bringt. Ich rühre die Speisen schon nicht mehr an, und ich schiebe das gerade servierte soundsovielte Glas Wein weit von mir weg. Ist dieser gerade so schön und intensiv begonnene Traum schon zu Ende? Ich vermute, dass Paula sich in der Küche mit Lucio über mich unterhält. Sicher wird sie ihm sagen, dass ich von Beruf Ethnologe
und gar kein Restaurantkritiker bin. Oder weiß sie gar nicht, welchen Beruf ich habe, weil ihre Schwester ihr solche Dinge nicht erzählt?
Auf jeden Fall macht ihr Erscheinen mich unruhig. Kurz zuvor habe ich noch in großer Gelassenheit und mit reinem
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