Das Kind, Das Nicht Fragte
unbedingt wissen, was hinter dem Zauberwort Ethnologie alles so steckt.
Ich erwarte eine Frage in genau dieser Richtung, als Lucio eine Flasche Wein und eine Karaffe mit Wasser bringt. Paula bittet ihn, noch zwei frische Wein-und Wassergläser zu holen, und ich überlege kurz, ob ich nach dem nächsten Schluck Wein überhaupt noch zusammenbringen werde, was Ethnologie ist. Jetzt aber zu streiken und zu sagen Nein, danke! Für mich bitte nicht mehr, ich habe bereits genug! – das ist unmöglich. Ich mag Menschen, die so etwas sagen, nicht. Mein Bruder Martin sagt so etwas bei fast jeder Mahlzeit, er bildet sich auf einen so dämlichen Satz, der jeder festlichen oder beschwingten Stimmung ein Ende bereitet, sogar noch etwas ein. Ich kenne mein Limit! s agt er und grinst dann meist, als hätte er etwas Supergescheites gesagt. Dabei stammen solche Sätze nur aus seiner spießigen Gesundheitsapotheke, mit deren Mittelchen und neurotischen Sätzchen er Menschen behandelt, die tatsächlich hundert Jahre alt werden wollen.
Es geht aber noch um etwas anderes als nur darum, Leuten von der Art meines Bruders Martin Paroli zu bieten. Die Flasche Wein und die Karaffe mit Wasser, die Lucio gerade serviert, sind so etwas wie das Entree zu einer zweiten Mahlzeit, die Paula und ich zusammen einnehmen werden. Diese Mahlzeit besteht nur aus gemeinsamem Trinken, und dieses Trinken ist – ich könnte es in diesem Moment schwören – der Beginn einer gegenseitigen Anziehung, die kaum noch aufzuhalten ist. Ich mag keinen Wein mehr! – mit einem solchen Satz würde ich diese Anziehung unterbrechen, und genau das kommt überhaupt nicht in Frage. Wir werden uns kennenlernen, denke ich vielmehr, und wie wir uns kennenlernen werden! Diese Frau mir gegenüber – und ich: Wir werden uns derart intensiv kennenlernen, wie es sich keiner von uns im Augenblick auch nur vage ausmalen kann. Wir werden uns gegenseitig überraschen, jawohl, oder besser: E s wird uns überraschen, E s, das große E s, das wird uns überraschen.
Ich bin aber still und insgeheim froh, dass ich solche Gedanken nicht laut äußere, ich bewege mich an der Grenze zum leicht beschwingten, alkoholisierten Reden, das ist sehr gefährlich, denn eine einzige falsche oder merkwürdige Wendung kann bereits das Ende unserer Begegnung bedeuten. Ich sage Lucio, dass ich die vorzügliche Mahlzeit jetzt mit einem starken Kaffee beenden will, ein starker, nein, sehr starker Kaffee sollte es sein, sage ich und halte gerade noch rechtzeitig inne, bevor ich mit einer Philosophie des Kaffeetrinkens aufwarte. Ich befehle mir, bis zu dem verdammten Kaffee möglichst nichts mehr zu sagen, und komme so beinahe zwangsläufig auf die gute Idee, auf die Toilette zu verschwinden, mir dort mit reichlich Wasser das Gesicht zu waschen und frische Luft zu schnappen.
Ich erhebe mich, als Paula zu Lucio sagt:
– Unser Gast ist einer der führenden Restaurantkritiker Deutschlands. Wir können stolz sein, dass er unser Restaurant besucht.
– Ich hatte so etwas vermutet, antwortet Lucio. Und weil ich es vermutete, habe ich meine Schwägerin gebeten, Ihnen Gesellschaft zu leisten. Hier allein zu sitzen und allein zu essen – nein, das geht doch nicht, das bricht einem Sizilianer wie mir das
Herz. Kein Sizilianer würde so etwas machen, niemand würde allein essen, das wäre beinahe eine Sünde … – der Kaffee kommt sofort, und dann probieren Sie zusammen mit meiner Schwägerin einen der besten Weine, die wir haben. Aus Donnafugata, Sie wissen schon, aus der Stadt, aus der die Frauen geflohen sind, Sie wissen schon, Don-na-fu-ga-ta: »Frau auf der Flucht«.
Ich nicke und beeile mich, auf die Toilette zu kommen, natürlich kenne ich Donnafugata und seine Weine, und natürlich weiß ich auch, was Donnafugata bedeutet – nur will ich gerade in diesem Moment von Frauen auf der Flucht nichts sehen und hören. Mein Leben hat aus unzähligen Flucht-Momenten bestanden, das reicht mir, ich will gerade weder daran erinnert werden noch mir Gedanken darüber machen, ob Paula vielleicht ebenfalls ein Fluchtwesen ist (ich habe sie im Verdacht, eines zu sein).
Als ich die Toilette betrete, bin ich erleichtert, dass ich dort allein bin. Ich trete vor den Spiegel und betrachte mich. Mein Gesicht ist leicht gerötet, das wird sich durch viel kaltes Wasser beheben lassen. Und meine Haare machen einen wirren und irgendwie lausbübischen Eindruck, der mir nicht gefällt. Da ich keinen Kamm bei mir habe,
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