Das Kind, Das Nicht Fragte
Vergnügen in diesem Restaurant gesessen, in dem ich eine wohltuende Nähe zu den Menschen und Dingen um mich herum empfinde. Ich bin auf einer Woge von Gastlichkeit, Zuwendung und Sympathie geschwommen, und ich habe während des Essens viele Seiten mit meinen Fragen und Antworten gefüllt, so, wie ich es gewohnt bin: Was ist das Gemeinsame dieser sizilianischen Suppen? – Dass sie auf den ersten Blick enttäuschend und verschlafen aussehen, wie dicker Brei, zu lange eingekocht, und dass sie dann so leicht und hellwach schmecken, dass jede Zutat in Erscheinung tritt (und das alles ist ein Ergebnis von Schärfe und Süße in immer anderer Mischung).
Einen Moment weiß ich nicht mehr weiter. Ich denke daran, noch einen starken Kaffee zu bestellen, zu bezahlen und das Weite zu suchen, andererseits ärgere ich mich, dass diese schönen Stunden nun so abrupt zu Ende gehen. Ich blättere noch ein wenig unschlüssig in meinen Notizen, als Paula zurück in den Speiseraum kommt und zwischen den Tischen hindurch direkt auf mich zugeht. Am liebsten würde ich mich unter den Tisch ducken und in meinem Kinderzimmer verschwinden. Droht jetzt das Gericht? Und wird sie mich wahrhaftig ansprechen? Es sieht ganz danach aus.
Sie macht neben meinem Tisch halt und beugt sich zu mir herunter. Dann sagt sie leise:
– Entschuldigen Sie, darf ich mich zu Ihnen setzen?
Ihre Stimme ist diesmal freundlich und warm, als sei sie wirklich daran interessiert, sich in Ruhe mit mir zu unterhalten. Ich deute auf den leeren Stuhl neben mir, räume die Utensilien auf dem Tisch etwas beiseite und sage:
– Bitte sehr, setzen Sie sich, ich habe lange genug allein hier gesessen.
Sie setzt sich, rückt ihren Stuhl etwas zurecht, faltet beide Hände auf dem Tisch und schaut mich an.
Ich blicke zurück, und ich spüre sofort, wie sehr ich erschrecke. Ihr strenges, offenes Gesicht erscheint noch prägnanter als am Nachmittag, und es ist nun so nahe, dass ich seine Präsenz beinahe nicht ertrage. Was für eine schöne, auf sich selbst verweisende Frau sitzt mir gegenüber! Keine Person, die wirken , auftrumpfen oder sich sonst in Szene setzen will, sondern jemand, der ganz bei sich ist! Es ist zu spüren, dass jedes über sie geredete Wort ihr nichts ausgemacht, ja, dass es sie nicht einmal beschäftigt. Jahrelang hat sie wohl alles Geschwätz ignoriert, und darüber ist sie so stark und unabhängig geworden, dass sie nicht wie eine Person der Szenen hier im Restaurant, sondern wie die Figur eines ganz anderen Dramas erscheint. Ja, genau, so kommt sie mir vor: wie die Figur aus einem Drama, das sie überallhin begleitet, so dass sich die Alltagsszenen, in denen sie sich jeweils aufhält, beinahe zwangsläufig in Szenen dieses Dramas verwandeln.
Das schwache Gold der Kette und das tiefe Dunkel des Kleides sind die einzigen farblichen Akzente, und sie sind genau abgestimmt auf das Braun dieses klaren Gesichts, das einen vermuten lässt, sie arbeite während des Tages einige Zeit im Freien. Das aber tut sie wohl doch nicht, denn ihre Hände sehen nicht nach einer solchen Arbeit aus, sondern wirken eher wie die einer Musikerin oder wie die einer Frau, die viel mit Büchern umgeht.
Als wollte sie diese Gedanken, die mir rasch durch den Kopf gehen, auch gleich bestätigen, greift sie nach meinen Notizheften und betrachtet sie von vorn und hinten, dann nimmt sie das Diktiergerät in die Hand und schaut nach dem Fabrikat.
– Sie sind also Restaurantkritiker? fragt sie.
– Hat Lucio Ihnen das gesagt? antworte ich.
Sie beugt sich etwas nach vorn und flüstert:
– Er hat mich in der Pension angerufen und gesagt: Bei uns sitzt ein Restaurantkritiker, es ist ein richtiger Profi. Was soll ich tun? Ich habe gesagt, dass er sich Mühe geben soll, doch er behauptet, er komme mit so etwas nicht gut zurecht. Also hat er mich gebeten, hierherzukommen und Ihnen Gesellschaft zu leisten.
Ich beuge ebenfalls den Kopf etwas vor, wir sitzen jetzt da wie zwei Verschwörer, die ihr Wissen für sich behalten wollen.
– Und Sie gehen auf so etwas ein? flüstere ich. Wieso telefoniert Lucio nicht mit Ihrer Schwester, sie ist doch wohl seine Frau?
– Das wissen Sie? Wer hat Ihnen das gesagt?
– Alberto, der Buchhändler, hat es erzählt.
– Ah, Alberto, ja, der weiß fast alles. Aber es stimmt, Lucio ist mit meiner Schwester verheiratet, ich bin seine Schwägerin. Meine Schwester kommt mit Restaurantkritikern nicht klar, sie würde zu viel reden und keinen
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