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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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sizilianische Brot-oder Linsensuppe schmecken? Und wie ein Fenchel-Bohnenpüree? Sardinenfrikadellen mit Orangenzitronat würde ich gerne kosten und natürlich auch den Algensalat mit frittierten Seeigeln. Es gibt wahrscheinlich herrliche Gemüse-Aufläufe und Dolci in allen Varianten: Kaltschalen, Torten, kleine Kuchen und Krapfen, Sorbets und Granite – ich notiere einfach drauflos und halte alles fest, was mich lockt, es ist ein großes Vergnügen.

    Ich habe mir mindestens eine halbe Stunde Zeit gelassen, als Lucio nach mir schaut und mit gespielt verzögertem Gang an meinen Tisch kommt.
    – Sie haben schon eine Menge notiert, sagt er lächelnd.
    – Ich habe das Terrain sondiert, antworte ich. Ihre Karte ist eine einzige Verführung, es ist schade, dass ich mich nun entscheiden muss.
    – Schade? Warum schade?
    – Jede Entscheidung für eine bestimmte Speise ist eben auch eine Entscheidung gegen eine andere.
    – Oh, ich verstehe. Darf ich einmal neugierig sein? Zeigen Sie mir, welche Gerichte Sie notiert haben?

    Ich zögere kurz, dann reiche ich ihm die beiden Zettel, die ich beschrieben habe. Er schaut sich die Liste an, dann sagt er:
    – Wir werden tun, was wir können. Von den meisten Gerichten lasse ich Ihnen kleine Portionen bringen. Probieren Sie und lassen Sie einfach stehen, wenn Ihnen etwas zu viel wird. An eine bestimmte Reihenfolge können wir uns allerdings leider nicht halten, ich lasse Ihnen die Portionen so bringen, wie sie gerade in der Küche fertig und von den anderen Gästen bestellt werden.
    – Das wäre ideal, antworte ich, und sorgen Sie sich nicht wegen der Reihenfolge, das ist nicht von Bedeutung, es ist mir sogar ganz recht, eine Suppe nach einem Hauptgericht oder ein süßes Sorbet vor einem Gemüseauflauf zu kosten.
    – Und der Wein? fragt er noch.
    – Auch da lasse ich Ihnen freie Hand, sage ich. Mal weiß, mal rot, mal süßer, mal herber, und das alles nur zum Nippen in kleinen Gläsern.

    Lucio nickt, und ich sehe, wie er sich auf diese Herausforderung freut. So etwas hat es im Alla Sophia noch nicht gegeben: die ganze Palette der Küche, die verschiedensten Speisen und Getränke – und das alles nur für einen einzigen Gast, der jeweils nur so viel von einem Gericht oder einem Glas isst oder trinkt, wie es ihm gerade passt.
    – Moment! sage ich, als er verschwinden will. Ihr Aperitif – woraus besteht er genau?
    – Aus einem frischen Jasminblütenlikör mit etwas Zitrone und Minze, aufgefüllt mit einem Schuss Prosecco aus Venetien, antwortet er, und ich notiere sofort mit besonderer Beflissenheit jedes Wort.

    Lucio kann nicht wissen, wie sehr mir das alles entgegenkommt. Als Kind habe ich oft so durcheinander gegessen, weil ich während unserer Familienmahlzeiten dem Esstempo der anderen nicht folgen konnte. Erst die Suppe, dann das Hauptgericht, dazu der Salat, dann das Dessert – manchmal habe ich einfach einen Gang übersprungen, oder ich habe zuerst den Salat und dann die Suppe und dann das Dessert gegessen. Hinzu kam, dass ich für die Mahlzeiten viel länger brauchte als die anderen Familienmitglieder, so dass ich am Ende allein am Tisch saß, mit den halb geleerten Schalen, Schüsseln und Tellern vor mir. Dann aß ich all das, was mir gerade schmeckte, und ließ mir dabei viel Zeit.

    Der Raum ist längst voll, und ich notiere, dass anscheinend keine Fremden anwesend sind. Lucio dirigiert seine Mannschaft aus der Ferne und bleibt nur während der Bestellungen länger an den einzelnen Tischen. Zu mir jedoch kommt er immer wieder, schaut kurz auf alles, was ich gerade probiere, und gibt zu den Gerichten knappe Kommentare. Er wartet aber nicht darauf, dass ich antworte, sondern lässt mich vollkommen in Ruhe, ich genieße es sehr, endlich einmal so ungestört und bevorzugt behandelt essen zu können. Dabei halte ich mich an das Probieren und Kosten und notiere, was mir auffällt. Viele Speisen haben eine leicht süßliche und doch scharfe Note, was anscheinend durch die Zugabe von Fruchtessenzen erreicht wird. Andere sind mit unendlicher Geduld eingekocht, denn sie machen trotz sehr langer Kochzeit noch einen konsistenten Eindruck, zerfallen aber, wenn man sie mit der Gabel berührt, in
kleinere, noch immer ansehnliche Elemente. Vor allem die vielen Sorten Gemüse wie Artischocken, Zwiebeln oder Auberginen sind von größter Delikatesse und endlich einmal so lange und mit Hingabe jeweils in einem anderen Sud gegart, dass ich mich mit ihnen besonders

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