Das Kind, Das Nicht Fragte
guten Eindruck hinterlassen. Sie geht nicht auf die Menschen ein, sie ist eine Monolog-Künstlerin.
– Und Sie? Was sind Sie? Alberto behauptet, Sie seien die Verschwiegene, eine, die mit niemandem spricht, eine, die sich entzieht.
– Sagt er das? Nun ja, er fantasiert gern ein bisschen, er ist ein guter Erzähler, aber halten Sie nicht alles, was er erzählt, auch gleich für die Wahrheit.
– Heute Nachmittag, im Haus des Nobelpreisträgers, habe ich es für die Wahrheit gehalten. Sie haben kein Wort mit mir gesprochen.
– Stimmt, und jetzt tut es mir leid, entschuldigen Sie. Ich bin, wie soll ich das sagen, ich bin manchmal zu vorsichtig.
– Zu vorsichtig?
– Ja, ich überlege mir oft zu genau, mit wem ich ins Gespräch kommen möchte und mit wem eben nicht.
– Ich verstehe, und in meinem Fall haben Sie es sich wohl jetzt überlegt, denn wir sind ja nun im Gespräch.
Sie richtet sich wieder auf und schaut sich nach Lucio um. Als sie ihn in der Nähe des Buffets stehen sieht, gibt sie ihm ein Zeichen. Er kommt zu uns, und sie sagt:
– Ach bitte, Lucio, bring uns doch noch etwas Gescheites zu trinken. Frisches Wasser und etwas Wein, Du weißt schon.
Lucio nickt und wirft mir einen kurzen Blick zu, ich bemerke, dass er einzuschätzen versucht, welchen Eindruck seine Schwägerin auf mich macht.
– Sie sind also Restaurantkritiker? fängt sie wieder an.
– Nein, antworte ich, bin ich nicht. Aber ich habe das auch gar nicht behauptet. Es ist alles etwas anders, es ist nämlich so, dass Ihr Schwager bloß glaubt, dass ich ein Restaurantkritiker sei.
– Und wieso glaubt er das?
– Weil ich gesagt habe, dass ich über dieses Restaurant und das Essen hier schreibe.
– Und das stimmt? Sie schreiben darüber?
– Na bitte, schauen Sie, hier kann ich Ihnen zeigen, wie ich über das alles schreibe.
Ich öffne ein Notizheft nach dem andern und blättere rasch ein paar Seiten durch. So etwas hat sie nicht vermutet, ich sehe es genau, ihr Gesichtsausdruck erstarrt und hat plötzlich etwas Fassungsloses.
– Wunderschön! sagt sie leise, wirklich wunderschön! Sie haben eine vollkommene Handschrift, jedes Wort lesbar, und jede Zeile als schnurgerade Linie, wie gesetzt oder gedruckt, ohne jedes Hilfsmittel. Wie machen Sie das?
– Das ist jahrzehntelange Übung, antworte ich, ich schreibe mit der Hand schneller als mit jeder Maschine. Dieses Schreiben ist für mich ein Vergnügen, graphisch meine ich, es ist ein graphisches, ästhetisches Vergnügen und deshalb viel mehr als bloße Mitteilung.
– Ja, das ist es ganz unbedingt. Sie könnten auch lauter Banales schreiben, es sähe doch so aus, als wäre es pure Lyrik.
– Sie werden sich wundern, ich schreibe wirklich sehr viel Banales. In meinen Chroniken zum Beispiel steht fast ausschließlich Banales.
– In Ihren Chroniken? Was ist das? Haben Sie eine dabei?
– Ja, sage ich, ich habe eine dabei. Darf ich sie Ihnen später zeigen? Ich verspreche Ihnen, dass Sie eine zu sehen bekommen. Es geht im Augenblick nur etwas schnell, und ich habe in Gesprächen leider auch diesen Tick mit der Vorsicht, Sie verstehen aus eigener Erfahrung sicher, was ich meine.
– Ja, ich verstehe. Aber sagen Sie mir noch eins. Wenn Sie schon kein Restaurantkritiker sind, warum schreiben Sie dann über dieses Restaurant und das Essen?
– Hat Ihre Schwester Ihnen nicht erzählt, warum ich hier bin?
– Nein, hat sie nicht. Meine Schwester erzählt mir so etwas nicht, sie will ihre Gäste nur für sich haben, verstehen Sie?
– Ja, das verstehe ich schon, aber ich wusste es nicht. Nun gut, dann sage ich Ihnen, warum ich hier bin. Ich bin von Beruf Ethnologe, ich schreibe eine größere Studie über diese Stadt, über ihre Einwohner, ihre Lebensgewohnheiten, ihre Rituale. Und dazu gehören nicht zuletzt auch das Essen, die Mahlzeiten und die Küche. Wenn ich hier sitze und esse und trinke, so ist das ein Teil meiner Forschungsarbeit.
Sie schaut mich noch einen Grad erstaunter an als zuvor, und ich sehe, wie sie meine Mitteilungen in ihrem Kopf sortiert. Ein Ethnologe? Bei Forschungsarbeiten?! Oh, das ist durchaus interessant, das ist etwas ganz anderes als all das, was in diesem Ort an Berufen geboten wird. Aber wie funktioniert das, die Ethnologie? Wie arbeitet ein Ethnologe genau? Ihr Gesicht hat – oder bilde ich mir das alles nur ein? – ein gewisses Leuchten bekommen, sie wirkt plötzlich angespannt und hochinteressiert, als wolle sie nun rasch und
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