Das Kind, Das Nicht Fragte
und Alberto hat von Lucio, dem Besitzer des Restaurants Alla Sophia , gesprochen. Lucio sei angeblich mit Maria verheiratet, und Paula habe angeblich vor vielen Jahren einmal in Lucios Restaurant gearbeitet. Was also liegt näher, als mich in diesem Restaurant einmal umzusehen? Im günstigsten Fall werde ich dadurch nicht nur weitere Aufschlüsse über sizilianische Speisen und Essrituale, sondern auch weitere Erkenntnisse über die geheimen Beziehungen der beiden Schwestern zueinander erhalten.
Ich ahne, wo sich das Restaurant befindet, denn ich habe während meiner Rundgänge durch den Ort auf die Hinweisschilder geachtet, die den Fremden die Wege zu Hotels und Restaurants anzeigen. Von einer der großen Straßenkreuzungen führt eine kleinere Gasse, die nur für Fußgänger begehbar ist, in ein Dickicht schmaler, meist einstöckiger Häuser, die wohl ein eigenes Viertel am unteren Abhang des Stadthügels bilden. Während ich mich in diesem Viertel noch zu orientieren versuche, bemerke ich schon eine leichte Vorfreude. Im Alla Sophia werde ich zur Ruhe kommen, sizilianisch essen und die dunklen Empfindungen, die mir nach der Begegnung mit Paula so zugesetzt haben, vollends vertreiben. Nach einigem Hin und Her finde ich dann auch das Restaurant, es liegt versteckt am Ende einer Gasse, und seine Eingangstür ist aus dichtem Milchglas, auf dem in eleganten Jugendstilschriftzügen Alla Sophia steht.
Als ich die Tür öffne, blickt mich ein Mann in einem hellgrauen, schlichten Pullover von der entgegengesetzten Seite des Raums direkt an. Er steht dort neben einem großen Buffet und streicht einige Servietten glatt, er mustert mich, und ich vermute, dass es sich um Lucio, den Besitzer des Restaurants, handelt. Er unterbricht seine Tätigkeit und kommt mir langsam zwischen den kleinen Tischen entgegen, die meisten sind festlich gedeckt und anscheinend auch reserviert, doch die Mehrzahl der Abendgäste ist noch nicht erschienen.
Er begrüßt mich und fragt, ob ich einen Tisch reserviert habe, und ich verneine und bleibe in der Nähe der Tür stehen, um mir einen Überblick über den kleinen Speiseraum zu verschaffen. Der Raum gefällt mir, er macht den Eindruck eines Wohnzimmers, in das eine große Familie zu einem familiären festlichen Essen geladen hat. Die Kerzen brennen bereits, und auf jedem Tisch steht eine Vase mit einem Strauß von Mimosen. Der Mann, den ich für Lucio halte, winkt mich mit einer knappen Geste in die Mitte des Raums und weist mir dort einen Tisch zu, der für zwei Personen gedeckt ist. Er zieht einen Stuhl etwas zurück, dort soll ich also Platz nehmen, das aber kann ich aus bestimmten Gründen auf keinen Fall tun, und so frage ich, ob es auch möglich sei, einen Platz am Rand oder – besser noch – in einer Ecke des Raums zu bekommen. Lucio stutzt kurz und schaut mich an, ich ahne, dass er mich am liebsten fragen würde, warum mir der Tisch in der Mitte nicht passt, aber er stellt diese Frage nicht, sondern blickt sich kurz im ganzen Raum um, als ginge er in Gedanken die Sitzordnung des Abends durch.
Ich weiß genau, was nun passieren wird, Lucio wird sich kurz entschuldigen und in der Küche verschwinden, um sich mit seinem Service-Personal zu besprechen. Jede kleine Änderung der einmal angedachten Sitzordnungen ist ein Eingriff in das abendliche Essritual und muss daher erst lange besprochen und umständlich abgewogen werden. Ich selbst aber habe mich längst entschieden. Sollte ich keinen Platz am Rand oder in einer Ecke des Raums bekommen, werde ich das Restaurant wieder verlassen. Als Fremder allein in der Mitte all dieser Tischgesellschaften zu sitzen, das bedeutet, mehrere Stunden lang den Blicken der einheimischen Esser ausgesetzt zu sein. Ich würde aber nicht nur zum Gegenstand zahlloser Blicke, sondern auch vieler Kommentare werden, und genau das will ich vermeiden. Es könnte passieren, dass ich die geballte Aufmerksamkeit für meine Person irgendwann nicht mehr ertrage und die Flucht antrete. Eine solche Flucht will ich dem Wirt und seinem Personal, aber auch mir selbst ersparen.
Als Lucio zurückkommt, fragt er, ob es mir wirklich unmöglich sei, mich an einen Tisch in der Mitte zu setzen. Offensichtlich will er nicht nachgeben und die besten Plätze an den Rändern und in den Ecken weiter den Einheimischen vorbehalten, auch wenn sie diese Tische nicht reserviert haben. Die Einheimischen gehören an die Ränder, die Fremden in die Mitte – so denkt er, und ich weiß,
Weitere Kostenlose Bücher