Das Kind, Das Nicht Fragte
dass ich nun nachlegen muss, um nicht den Kürzeren zu ziehen.
– Es tut mir leid, sage ich, aber ich bin nicht nur zu meinem Vergnügen hier. Ich notiere vielmehr während des Essens eine Menge, und ich habe einige Bücher dabei, in denen ich wohl dann und wann etwas nachschlagen muss, Sie verstehen?
Ich lüge keineswegs, genau so ist es, ich werde während des Essens Notizen machen, und ich habe auch einige Bücher in meinem Rucksack dabei, in denen ich vielleicht etwas nachschlagen werde. Lucio aber weiß natürlich nicht, dass diese Notizen meinen ethnologischen Forschungen gelten, vielmehr wird er annehmen, dass mein anscheinend berufliches Interesse an der folgenden Mahlzeit wohl darauf zurückzuführen ist, dass ich den Beruf eines Restaurantkritikers ausübe. Als er mich eindringlich anschaut, weiß ich, dass ihm genau diese Überlegung durch den Kopf geht.
– Entschuldigen Sie, sagt er, habe ich Sie richtig verstanden? Sie schreiben über unser Restaurant und das Essen?
– Exakt, antworte ich, ich werde darüber schreiben. Mehr möchte ich jetzt aber dazu nicht sagen, haben Sie bitte dafür Verständnis.
Kaum habe ich das gesagt, ist auch schon die Aufregung zu bemerken, die sich in ihm schlagartig breitmacht. Wie ein Kind schlägt er vor lauter Vorfreude kurz in beide Hände, räuspert sich und beschleunigt seine Bewegungen, als wäre jemand hinter uns her.
– Kommen Sie! sagt er mit leicht rauer Stimme, ich gebe Ihnen den ruhigsten Platz, den wir haben. Keiner wird Sie stören.
Ich gehe hinter ihm her bis in die äußerste Ecke des Raums, wo er den kleinen Ecktisch sofort abräumt und lediglich ein Gedeck stehen lässt. Dann deutet er auf den toten Winkel hinter dem Tisch, wo ich meinen Rucksack mit den Arbeitsgeräten bequem und in Griffnähe abstellen kann.
Ich setze mich und nehme den Rucksack kurz auf den Schoß. Dann packe ich einige Bücher, drei Notizhefte, mein Diktiergerät und einige Stifte aus und lege alles mit einem leicht feierlichen Gestus an den Rand des Tisches.
– Sollen wir die Mimosen entfernen? fragt Lucio.
– Auf keinen Fall, sage ich, die Mimosen sind wunderbar, ich liebe Mimosen.
Ich sehe, wie sehr ihm meine Antwort schmeichelt. Ein kurzes anerkennendes Wort zu einem Sträußchen Mimosen lässt ihn bereits glauben, dass ich sein Restaurant nun ins Herz geschlossen habe. Ich lächele und vermute, dass er sich jetzt vorstellen wird.
– Ich heiße Lucio , sagt er.
– Das habe ich schon vermutet, antworte ich und bemerke, dass er die Vertraulichkeit zwischen uns steigert, indem er seinen Nachnamen weglässt.
– Sie kennen mich? fragt er und senkt etwas den Kopf.
– Ich habe von Ihnen gehört, antworte ich.
– Oh, das freut mich sehr! fährt er fort.
Jetzt ist die Kluft zwischen uns überbrückt, Lucio sitzt schon beinahe auf meinem Schoß. Im Verlauf der Mahlzeit
wird er die Vertraulichkeit noch weiter steigern, da bin ich sicher. Wenn ich keine schweren Fehler mache und meine Psyche mir nicht wieder einen Streich spielt, wird es eine wunderbare Mahlzeit werden. Ich greife nach der Serviette und breite sie langsam auf meinem Schoß aus. Lucio bemerkt es, und ich spüre, dass er diese Geste als einen Auftakt zu einem Programm versteht, das der Küche lauter Höchstleistungen abverlangt.
– Womit wollen wir beginnen? fragt er.
– Bringen Sie mir bitte die Wein-und die Speisekarte, antworte ich, und dann lassen Sie mir bitte etwas Zeit für eine genaue Lektüre.
– Natürlich, sagt er, ich bringe Ihnen die Karten und etwas Wasser und einen Begrüßungsschluck unseres Hauses, und dann lasse ich Sie so lange allein, wie Sie es wünschen.
Ich lehne mich etwas zurück und stelle den Rucksack in die Ecke. Es ist noch zu früh, um mit den Utensilien auf dem Tisch zu hantieren. Der Raum füllt sich allmählich, und auf meinem Tisch stehen bald zwei große Flaschen Wasser ( mit gas und ohne gas ) sowie ein kleiner dunkelblauer Pokal mit einer geheimnisvollen Flüssigkeit, die ich wohl für einen Aperitif halten soll. Ich nippe vorsichtig daran, sie schmeckt intensiv nach frischen Blüten und ein wenig auch nach Zitrone. Den Blütenhauch glaube ich zu kennen, weiß aber nicht, woher.
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E S MACHT großes Vergnügen, in der Speisekarte zu lesen, denn ich kenne viele Gerichte nicht gut genug und muss oft rätseln, woraus sie bestehen. Ich nehme ein Notizheft zur Hand und notiere einige Namen, die ich für typisch sizilianisch halte. Wie wird eine
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