Das Kind, Das Nicht Fragte
einige, nein, die meisten von ihnen werden sich insgeheim überlegen, ob sie nicht auch zu der Ehre kommen wollen, die Rolle eines Gesprächspartners zu übernehmen. Keiner von ihnen wird das aber laut sagen, nein, sie werden diesen Wunsch vielmehr tief in ihrem Inneren bewegen und insgeheim darüber nachdenken, wie sie diskret und unauffällig weiter vorgehen sollen. Wenn wirklich ein großes Buch über Mandlica und seine Bewohner entsteht, dann will jeder, der in dieser Stadt etwas zu sagen hat, unbedingt darin vorkommen.
Genau mit derartigen Überlegungen rechne ich. Und ich bin auch bereits darauf gefasst, wie ich auf Gesprächsangebote reagieren und eventuelle weitere Befragungen organisieren werde. Meine Gesprächspartner dürfen nur nicht voneinander wissen, und sie dürfen zu keinem Zeitpunkt in Erfahrung bringen, was ich schon alles über den Ort und seine Menschen recherchiert habe. Ausschließlich in mir, als dem Fragenden, soll das innere Gesamtbild dieses Raums entstehen – wie ein schwieriges Puzzle, dessen Stücke sich nach reiflichen Überlegungen hoffentlich kunstvoll zusammensetzen lassen.
So gesehen, ist Alberto für mich auch eine Art Köder. Ich habe seine Befragung auf die Straße und vor seinen Laden verlegt, um möglichst viele Zeugen anzulocken. Aus den Zeugen sollen mit der Zeit Beiträger werden, und aus einigen Beiträgern dann vielleicht sogar Verbündete.
3
S EIT DEM nächtlichen Gespräch mit Paula habe ich von ihr weder etwas gehört noch habe ich sie auch nur eine Sekunde gesehen. Jeden Morgen horche ich während des Frühstücks, ob sich wie früher hinter meinem Rücken etwas tut. Kein Rumoren? Kein Türenschlagen? Nein, sie ist einfach verschwunden, und so muss ich mit Maria auskommen, die weiterhin jeden Morgen mit dem kleinen
Rollwagen erscheint und mir jedes Mal etwas anderes zum Frühstück serviert.
Dabei geht mir die Begegnung mit Paula nicht aus dem Kopf. Es ist schlimm, denn ich ahne genau, was in meinem Kopf geschieht. Ich bin dabei, mich in Paula zu verlieben, ja, es ist fast schon so weit, es braucht nur noch einen kleinen Kick, dann ist die Sache vollends in Bewegung. Ich sollte mir klar machen, was passiert ist, ich sollte mich in Acht nehmen, das habe ich mir seit meinen Niederlagen doch bereits tausende Male gesagt. Meine Niederlagen liegen viele Jahre zurück, seither habe ich es vermeiden können, mich Hals über Kopf in solche emotionale Strudel zu begeben, jetzt ist es aber anscheinend wieder so weit, deshalb sollte ich wachsam sein.
Zunächst: Wie komme ich überhaupt darauf, dass sich zwischen Paula und mir etwas anbahnt? Ich komme darauf, weil ich in Gedanken immer wieder in unser nächtliches Gespräch zurückspringe. Ich tue so, als ginge die Zeit nicht voran, ich sitze da und warte darauf, dass ich wieder in dieser Vergangenheit ankomme. In dieser Vergangenheit möchte ich dicht neben Paula sitzen, und ich möchte eine Art von Zeit empfinden, die nicht zu vergehen scheint. Zeit an und für sich! Stillstehende Gegenwart! Keine Gedanken an ein Vorher und Nachher, sondern die pure Präsenz, die Fülle der Zeit!
Genauer: Was meinst Du mit der Formel von der »Fülle der Zeit«? Das Gespräch mit Paula bestand nicht aus linearen
Erzählungen, sondern aus längeren, bunt gestrickten Monologen. Kein einziges Wort hat sie über ihre Herkunft, ihre Arbeit, ihre nähere Umgebung oder ihre Lebensgeschichte verloren. Ich weiß also nicht, was sie in den letzten Jahren auf Sizilien getan hat, ob sie verheiratet oder liiert war, ob sie einen Beruf ausgeübt hat oder was sie mit ihrem Leben noch vorhat. Stattdessen hat sie darüber gesprochen, was sie an Mandlica mag, wo sie sich auf Sizilien am liebsten aufhält, warum sie nicht gerne auf seine Hochplateaus fährt oder warum sie schon ein leichter Sommerwind aus der Fassung bringen kann. All diese kleinen Mitteilungen existierten gleichwertig nebeneinander, sie zielten auf das Unverwechselbare eines einzelnen Menschen, auf seine Emotionalität, seine Art, zu fühlen und zu denken. Endlos hätte ich diesen Erzählungen zuhören können, weil sie nicht auf Ursachen oder Gründe zurückgeführt wurden, sondern weil es sich so anhörte, als wären die Emotionen, die durch sie zum Ausdruck kamen … – ja was? –als wären sie gottgewollt. Paula setzte sich nicht mit ihrem Leben auseinander, sie grübelte nicht darüber nach, sie gab niemandem die Schuld an bestimmten Entwicklungen, und sie entwarf erst recht
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