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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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lassen sie dann ohne Unterbrechung sprechen.

    Ihre Auftritte stören mich aber nicht im Geringsten. Ich finde es gut, während des Frühstücks etwas Sprachmusik um mich zu haben, das ist allemal besser als die sogenannte Popmusikpisse , wie einer unserer bedeutendsten Ethnologen die gängige Hintergrundmusik in Flugzeugen
oder Frühstücksräumen einmal treffend benannt hat. Neben der angenehm belebenden Klanglichkeit hat Marias Sprachmusik auch den Nebeneffekt, dass ich den neusten Tratsch mitbekomme und von Menschen oder Neuigkeiten im Ort erfahre, von denen ich zuvor noch nie gehört habe:
    – Heute kommt gegen elf der Bäcker, darf ich nicht vergessen, muss ich drandenken. Sie haben irgendeine neue Sorte von Mandelgebäck mit Ingwer kreiert, ich bin gespannt, ob es wirklich was taugt.

    Gegen neun Uhr verlasse ich die Pension und wenig später stecke ich mittendrin in der Arbeit. Im Augenblick beschäftige ich mich noch mit Alberto, den ich weiter ausführlich befrage, ich gehe aber alle zwei Tage auch für ein, zwei Stunden ins Stadtarchiv, um dort nach Quellen zur Stadtgeschichte und nach aufschlussreichen Details zum Thema Sitten und Gebräuche der Einheimischen zu forschen.

    Gegen dreizehn Uhr esse ich zu Mittag, wobei ich an jedem Tag immer dieselbe kleine Trattoria aufsuche, die mir Alberto empfohlen hat. Diese Empfehlung ist ein großes Glück, denn ich kann mir kaum vorstellen, irgendwo eine bessere und für mich geeignetere Mahlzeit zu bekommen. Die Trattoria besteht aus einem einzigen, nicht allzu großen Speiseraum mit einer langen Glasfront zur Straße hin. Es gibt lauter Vierer-Tische mit karierten Decken, und an der Wand gegenüber der Glasfront hängt eine Schiefertafel, auf die der Wirt die Speisen des Tages mit Kreide notiert hat. Er ist bereits
etwas älter und betreibt die Trattoria zusammen mit seiner Frau, er bedient, sie kocht, und manchmal taucht sie ebenfalls aus der Küche im Speiseraum auf, und dann stehen sie beide nebeneinander stumm hinter der Theke und beobachten, wie ihren Gästen das Essen schmeckt. Es ist ein sehr einfaches, aber gutes Essen, Gemüsesuppe mit Gemüse aus dem Garten der beiden, ein paar dünne Scheiben Braten und dazu geschmorte Kartoffeln, ein Obstsalat oder ein Sorbet als Dessert und dazu natürlich ein Quarto Weißwein, etwas Wasser und später der obligatorische starke Kaffee. Die meisten Gäste kommen allein und sind nicht selten Männer auf Durchreise, die einige Tage in Mandlica zu tun haben. Sie setzen sich an einen Tisch, falten die mitgebrachte Tageszeitung auseinander und lesen, während sie essen, ein paar Artikel. Ich tue es ihnen inzwischen nach, obwohl ich das Lesen von Zeitungsartikeln während des Essens eigentlich eine Unsitte finde. In diesem Fall aber begehe ich diese Unsitte, weil ich mich so in die Phalanx einer männlichen Typenreihe einordne: Mann zwischen dreißig und vierzig, allein und in Geschäften auf Reisen, beim Genuss der mittäglichen Mahlzeit. Meist bin ich der letzte Gast, der noch in der Trattoria sitzt und etwas liest oder notiert. Warum und was ich notiere, hat sich inzwischen herumgesprochen, so dass Mario, der Wirt der Trattoria, manchmal zu mir kommt und mir ohne jede Aufforderung zuflüstert, wen er heute und gerade eben noch zu Gast hatte: Das war Signor Volpi, früher war er Direktor unseres Gymnasiums, heute hat er eine hohe Stelle in Palermo, in irgendeiner Kommission des Erziehungssektors, glaube ich. Er ist unverheiratet, aber bei den Frauen – wie soll ich sagen? – ist er sehr erfolgreich.
Er ist ein feiner, zurückhaltender Mensch, mit einer unglaublich leisen Stimme. Irgendwas an den Stimmbändern, irgendeine Kindheitsgeschichte. Er kommt alle paar Wochen hierher, um – na, Sie dürfen raten, warum er hierher nach Mandlica kommt! Richtig, um seine alte, fast neunzigjährige Mutter zu besuchen.

    Nach dem Mittagessen gehe ich in meine Zimmer unter dem Dach der Pension zurück und ruhe mich ein wenig (höchstens aber eine halbe Stunde) auf dem breiten Bett aus, dessen Breite ich oft als stummen Vorwurf empfinde. Schon immer fand ich es durch und durch beschämend, eine Hotelnacht allein in einem Doppelzimmer oder in einem Zimmer mit einem besonders bequemen oder auffälligen Doppelbett zu verbringen. Manchmal war meine innere Unruhe dann sogar so groß, dass ich eine kleine Flasche Sekt aus der Minibar holte und den Inhalt auf zwei Sektgläser verteilte. Ich tat so, als sei ich mit Begleitung unterwegs, ich

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