Das Kind, Das Nicht Fragte
werde ich in diesem Fall mit den Fingern Abhilfe schaffen und die Haare zumindest halbwegs in Ordnung bringen. Ich werde mich also etwas sortieren, frische Luft schnappen und mich auf meine Frage-Künste besinnen. Was das Fragen betrifft, bin ich kaum zu schlagen. Ich darf Paula nur nicht zu viel und nicht laufend fragen, es muss Pausen, Reprisen und
kleine Wiederholungen geben. Mit anderen Worten: Ich muss unser Gespräch klug komponieren, wie ein Musiker und damit wie einer, der sich auf Motive, Melodien, Steigerungen und intensive Pausenmomente versteht.
Als ich die Toilette verlasse, ahne ich nicht im Geringsten, was passieren wird. Denn zwei Stunden später sitzen Paula und ich noch immer zusammen an dem kleinen Ecktisch. Wir haben eine fast perfekte Unterhaltung hinbekommen, ein einziges langes Gespräch über Sizilien als Insel, Inseln im Allgemeinen, die Vorzüge bestimmter Früchte, das Fahren mit dem Auto, die Liebe zum Meer, die Besonderheit von Bergwegen, das Wohnen in der Nähe eines Vulkans, die schönsten Sportarten und die Wirkungen des Lichts in Küstennähe. Ich habe dieses Gespräch, ohne dass sie es wohl bemerkt hat, mit meinen Fragen sehr vorsichtig geführt, ja, ich habe sie zum Erzählen gebracht und selbst über mein Fragen hinaus nur sehr wenig gesprochen, meist nur zwei, drei Sätze, Sätze wie Wenn ich in der Nähe eines Vulkans lebte, würde ich nicht verreisen oder Seit ein paar Jahren fahre ich immer langsamer Auto, nicht aus Angst, sondern weil ich das Autofahren erst jetzt richtig genieße. Solche Sätze waren Sätze, an denen sich Paula abarbeiten konnte, sie verführten zum Nachfragen und machten ein wenig staunen, wichtiger aber war noch, dass sie den Anschein erweckten, ich sei absolut bei der Sache und mir falle zu jeden Thema etwas Interessantes, selten Gehörtes ein.
Kurz nach Mitternacht geben wir auf. Der Rotwein aus Donnafugata ist längst getrunken, das Wasser
auch – und ich bin durch unser intensives Gespräch, das ich hellwach geführt habe, schon beinahe wieder nüchtern. Ja, im Ernst, ich bin wieder nüchtern, mein Fragen und Zuhören haben mich wahrhaftig nüchtern gemacht.
– Es ist spät, sage ich, wir sollten aufbrechen.
– Ich helfe noch etwas in der Küche, antwortet Paula, früher hatte ich in diesem Restaurant mal einen Job.
– Ich weiß, Alberto hat mir auch davon erzählt.
– Sie wissen eine Menge, aber Sie wissen zum Glück nicht alles, sagt sie.
– Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, antworte ich, und ich danke Ihnen für Ihre Gesellschaft. Unsere Unterhaltung war für mich ein großes Vergnügen. Wollen wir unser Gespräch nicht einmal fortsetzen? Meine Einladung zu einem Essen unten im Hafen, die bleibt jedenfalls bestehen.
– Ich werde es mir überlegen, sagt sie und lächelt.
Ich stehe auf und räume meine Utensilien in den Rucksack.
– Moment noch! sagt sie. Sie wollten mir Ihre Notizhefte zeigen.
Ich überlege kurz, ob ich das wirklich tun soll, lasse dann aber alle Bedenken beiseite und lege die Notizhefte nebeneinander auf den Tisch.
– Schauen Sie, sage ich und öffne das erste Heft. Das hier ist eine Chronik, jeden Tag schreibe ich in ihr eine Seite mit knappen, stenogrammartigen Eintragungen zum Verlauf des Tages: 6 Uhr aufgestanden, Frühstück im Innenhof. Gespräch mit Maria über den regionalen Busverkehr und seine Verbindungen zu anderen Küstenstädten … – und so weiter. Und sehen Sie hier,
das zweite Heft. Darin stehen in loser Folge meine Aufzeichnungen: Ideen, Überlegungen oder kleine Geschichten, einfach alles, was mir durch den Kopf geht und was ich schriftlich festhalten will, damit es weiter in meinem Kopf arbeitet. Manchmal sind diese Aufzeichnungen tagebuchartig, dann aber sind es auch bloß Protokolle von Gesprächen und Begegnungen, Abschriften von Texten, die ich ins Diktiergerät gesprochen habe, dies und das, lauter Material, ungeordnet und krude. In diesem dritten Heft hier steht aber ganz anderes, denn in diesem Heft erzähle ich mir gleichsam mein Leben. Ich erzähle es im Präsens, und ich erzähle es so, als würde ich es Fremden erzählen. Das Ganze liest sich wie eine große Erzählung oder vielleicht sogar wie ein Roman, es ist aber nichts anderes als meine Lebenserzählung oder mit anderen Worten: Die Erzählung, die ich mir von meinem eigenen Leben erzähle. Ich erzähle beinahe wie ein Kind, ich erzähle so, als säße ich neben meiner Mutter oder vor meinem Vater mitten in unserer
Weitere Kostenlose Bücher