Das Kind, Das Nicht Fragte
kein Programm für eine eventuell andere Zukunft, sondern sie sagte Dinge wie etwa: Das Gehen diesen berühmten kleinen Berg in X hinauf lenkt vom Sehen ab, immerzu starrt man auf die wenigen Meter Treppenstufen vor den eigenen Füßen. Und dann endlich der höchste Punkt! Man steht da und soll die Welt bewundern, die unter einem liegt! Richtige Ansprüche stellt diese Welt: Staune, bewundere mich, sag etwas Anerkennendes, Großes! Ich aber denke nicht dran, ich will vielmehr am liebsten sofort wieder
runter von diesem kleinen, wichtigtuerischen Gipfel, auf dem man zu allem Überfluss irgendwann noch eine Burg gebaut hat. Berge, Gipfel und Burgen – das ist nichts für mich …
Es war also zunächst genau dieses Monologisieren und diese niemals zurück oder nach vorn schauende, sondern ausschließlich konstatierende Rede, die mir so gefiel. Ja, es war erlösend, einen Menschen nicht räsonieren und sein Erleben von irgendwas herleiten oder irgendwem zuordnen zu hören. Stattdessen hörte es sich so an, als hätte Paula die Welt schon immer genau so und das seit Kindheitstagen erlebt und als hätte sie die Formen ihres Erlebens inzwischen begriffen. Jemand war sich selbst auf den Grund gekommen! Jemand hatte so etwas wie einen treffenden Blick auf sein eigenes Erleben gewonnen und war damit zufrieden und wollte damit unbedingt weitermachen!
Hinzu kommt aber noch etwas anderes, Wichtiges: Ich habe das seltsame Gefühl, dass mich jeder von Paulas Monologen nicht nur stark interessiert, sondern ebenso stark dazu anregt, auf ähnliche Weise auch von mir zu erzählen. Daher erscheint mir ihr Reden wie ein Impfstoff, der mich in wache Aufmerksamkeit versetzt. Und wie steht es mit Dir? frage ich mich laufend, und was würdest Du auf diesen Gipfeln tun? Und erzähl, erzähl doch: warum wanderst Du eigentlich überhaupt nicht gern und erst recht nicht in Gesellschaft? Paulas Reden verführt mich also zu so etwas wie Teilnahme, ja, ich nehme Anteil an ihrem Erleben, ohne dass ich unbedingt Ähnliches erlebt habe oder gar zu allem, was sie schildert, bestätigend nicken
würde. Darum, sich bestätigt zu sehen, geht es also ganz und gar nicht (gibt es etwas Langweiligeres?), vielmehr geht es darum, sich als geeigneten (oder sogar idealen) Gesprächspartner Paulas zu sehen. Wie gerne hätte ich in ihrem Leben hier und dort neben ihr gestanden und hätte gehört, was sie zu diesem oder jenem gesagt hätte! Und wie gerne hätte ich darauf geantwortet, indem ich ihre Beobachtungen mit meinen eigenen Beobachtungen in Verbindung gebracht hätte! Der heftige Wunsch, an Paulas Leben teilnehmen zu dürfen, ist also nichts anderes als der Wunsch danach, zusammen mit ihr über die Welt zu sprechen und sich diese Welt zu erzählen. Solche Gesprächsszenen sind seit jeher mein Traum, nach ihnen sehne ich mich eigentlich, denn sie würden mich befreien von meiner bisher ausschließlich kindlichen Erzählsucht und den merkwürdigen Manieren meiner einsamen Monologe.
Mit noch mal anderen Worten : Das nächtliche Gespräch mit Paula hat in mir ein starkes Fantasieren entwickelt. Es ist die Fantasie von einem gemeinsamen Erleben, Gehen und Reisen, in dem es lauter hellwache, geistesgegenwärtige Momente des Staunens und Sehens gibt: Wir werden unsere Emotionen gegenseitig verstärken, wir werden gar nicht mehr voneinander lassen! (Und es ist genau diese Art des Fantasierens, die mich vermuten lässt, dass ich mich verliebt habe.)
Mit solch geradezu verrückt weit ausholenden Gedanken frühstücke ich nun an jedem Morgen und werde durch kein einziges Zeichen für meine triumphale Verrücktheit belohnt. Stattdessen halte ich mich an Maria,
plaudere mit ihr und versuche, zumindest durch Blicke herauszubekommen, ob sie mich in irgendeiner Hinsicht an Paula erinnert. Ich schaue, ich blicke, aber natürlich entdecke ich nichts als Unterschiede!
Und noch was, schnell noch, als Letztes, hinterher: Ich weiß, dass der erotische Zustand sich in meinem Fall durch ein längeres Gespräch aufbaut und inszeniert. In diesen ersten Gesprächen mit einer Frau entwickelt sich ein intuitives Interesse , ein Interesse, das ich nicht begreife. Es macht diese Frau zu einem anziehenden, durch und durch magischen Wesen und schenkt mir den Glauben, ich könnte darauf vertrauen, dass diese Magie ewig besteht! Als wäre sie unendlich aktiv! Und als wäre ein gemeinsames Erleben ein nicht enden wollendes rauschhaftes Vergnügen!
Am Ende solcher Gedanken sage ich
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